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Jürgen Lagger


ONKEL. Ein Reh sei roh verletzt auf der Straße gelegen, hätte halbtot den Straßenbelag mit Beschlag belegt, du seist stehengeblieben, das Auto automatisch an den Rand gefahren, den immer-mit-dabei-Hirschfänger zur Hand genommen und: fang den Hirsch! zu dem Tier getreten, hättest der Lebendhälfte trotz Gegenwehr: dagegen wer?, trotz: stell dich nicht so an! Sterbensangst anstelle der Stelle, an der Schädel auf Wirbelsäule sitzt, wo Schädelknochen Zäpfchen macht, das ich gleich bei mir begreife, die Klinge stirnhoch: Hirnstoß, Geistesblitz! in ihr Hirn getrieben, erlöst die arme Kreatur, barmherziger Akt, so erzählst du, glaube ich dir jedes Wort.
In dem Teil des Gartens, den mir die Eltern pfleglich überlassen, ist der Schnittlauch viel größer als in all den anderen Beeten und kindlichen Stolzes voll weise ich auf das Objekt meiner Freude hin, Bewunderung objektiv allgemein: toll!, du, gemeinst, nimmst später mich zur Seite: ob ich wisse, daß Schnittlauch besonders gut wachse, wenn man Scheiße darunter vergrabe, ihn über: Scheißpflanze! Menschenscheiße pflanze, ob ich überhaupt schon einmal mit der Hand in Scheiße gegriffen hätte, handlich ins Volle gelangt, du: aber sicher! natürlich schon, das müsse man machen, egal ob in eigene oder fremde: scheißegal!, ohne das sei man kein richtiger Mann, ich bin gerade zwölf.
Man nennt dich mir gegenüber Onkel, ich dich mir gegenüber nenne dich nie, bei mir bleibst du unbenannt, die Onkelnennung erkannt als eine dieser verordneten Unwahrheiten: keine Onkelspur bist du ungekannt einfach eines Tages mehrfach immer wieder graumeliert im Heckwasser meiner Tante aufgetaucht, im Heck der Kindergartentantetante: und du Oberstudienrat, aber hui!, der bisher Onkel ausgetauscht, und erst später habe ich erfahren, daß da: fröhlicher Tauschverkehr! noch mehr vertauscht verkehrt: Onkel gegen Oberstudienrat, Oberstudienratsgattin gegen Kindergartentantetante eingetauscht und wie am Anfang des Tausches bei allen Vieren Freude über den gelungenen, so am Ende der Täuschung: vom Umtausch ausgeschlossen! keine von keinem begeistert und alle verkehrt vertauscht enttäuscht allein.
Aber davor: du zu Besuch beim Gartentor herein und gleich zu mir, auf mich zu, ich, dein erklärter Liebling, Männer deines Schlages: schlag zu! mögen kleine, blonde Jungen, Mann deines Packs packst du zu, packst meinen Oberarm, drückst zu, fest zu, so zu, daß mir die Tränen kommen, lachst zu, ach, zu komisch: nichts zu spüren bei mir, keine Muskeln: zu schande!, und deines Zeichens Lehrer, ganz Pädagoge: Oberstudienrat, nur zu!: du kennst das allzu gut, viele Schüler in deinen Klassen ohne Klassekörper, stehst vor dem Klassenkörper dem Klassenkörper vor, Körperklassen, die nichts taugen, zu nichts, gesunder Geist nur in gesundem Körper, drückst bei den Taugenichtsen zu, bis schmerzvoll verbogen: sitzt gerade! sie nicht mehr wissen, wie sie sitzen sollen, wehrlos sie: dagegen wer?, du ganz Autorität züchtigst Verzogene, drückst sie weiter blaubefleckt mit auf Zensuren zu, zu ihrem besten, zu richtigen Männern, treibst sie zu weit, wenn du arme Arme drückst.
Am Abend im Garten im Dunkeln im Kamin ein Feuer, bläst du Mundharmonika, alte, deutsche Schlager und meine Kindergartentantetante und meine Mutter singen: stimmenhoch!, alles sehr harmonisch Mund: Krematoriumsstimmung, aber sowas von gemütlich!, mein Vater singt nicht, er kann dich nicht leiden.
Andersrum: Besuch bei dir, deiner Hütte: in Wildbad Einöd!, wo du Bisamratten züchtest, ganz ordentliche Zucht, und Silbertannen hochgezogen empfängst du die Schwestern mit: charmant! graumeliertem Handgeküsse, grauer Trachtenhut behütet graue Schläfen, naturverbunden Kniebundhose, Wollsocken grausliche Goiserer, mit denen du auch in Theater gehst, falls du, gehst du gutes, deutsches Drama, keinen jüdischen Dreck in den Sohlen, ansonsten die Schuhe ja besser zum Marschieren: zackzackmarschmarsch! geeignet und empfängst mich: was für ein Empfang! mit Stößen in die Seite, für die ich gar nicht empfänglich, mein Vater ist nicht mit. Die Hütte schäbig eingerichtet, man weiß ja, so eine Scheidung, bescheiden wird man, die nimmt einem alles: Scheide!, aber nicht so schlimm: du liebst es einfach, ißt, bist du allein, Erdäpfel mit Sauerkraut: so bescheiden, dabei Oberstudienrat!, und am Tisch ein Kassettenrecorder mit blechernem: heilheil! Führergeplärre, und du, Kopf unter Hut in Hütte in Gedanken bei guten heilen Zeiten, allen einen Schnaps einschenkst, auch mir!, was ein richtiger Mann, der verträgt das schon. Als ich das Glas nehmen will, gibst du es mir nicht: ich hätte die andere Hand in meinem: also sowas! Hosensack, das mache man nicht, in die Scheiße stecken schon, so unter Männern unter sich, unter euch richtigen Männern: recht so!, aber bloß nicht in den: wo kommt man da hin! Hosensack und entweder ich nähme sie oder ich bekäme keinen: die Hand in dem Hosensack auf dem: gehst mir! Hodensack laß ich dich stehen, bodenständig du mitsamt Führer, Schnaps und Frauen: Prost heil! und ich die restliche Zeit im Auto, laute Musik bis zur nach Hause Fahrt.
Eine Hantel als Geschenk: herzlichen Dank! für mich, sieht wie ein Knochen aus, ist aber aus Metall, braun lackiert, und du ermahnst mich: damit zu trainieren, weil so, das sei nichts mit mir: sei nicht anzuschauen!, irgendwie ungesund, ich solle auch zum Turnerbund: stop! jetzt wird’s zu bunt!, zum Turnverein, zu meiner Ertüchtigung: zu den Tüchtigen! und ich nehme das braune Ding, das ich kaum heben kann, lege es, als du wieder weg bist, in mein Zimmer, in eine Ecke, alles begriffen greife ich es nie mehr an.
Irgendwann später meine Liebe zu Mayonnaisesalat: doch zu diesem hier nicht, der ganz anders ist, als ich ihn lokal bestellt mir vorgestellt, ich esse ihn nicht auf, worauf du, der du genügsam immer alles mit der Tante teilst: so teilsam!, weil wenn man weiß, wie Hunger ißt, dann wird man entschieden bescheiden, mir wird beschieden, ich solle den Salat, den ich bestellt, dir zu Gefallen gefälligst essen, du wirst grob: und zwar heute noch!, bis meine Mutter mich verteidigt, du sie Glucke nennst: so werde aus mir nie!, ich mich unter dem Tisch verberge: zu Berge krieche!, damit keiner mich tränenwärts sieht, kraule den Hund, der leckt mir dafür kreuzweise das Gesicht. Ab.
Dein Hund, graue Rauhhaardackelin, gehorcht dir auf das nichteinmal Wort: bei Verbotenem erwischt, zischst du laut einen Zischlaut zwischen Lippen: fffffttttt! heraus: Leg dich! hinterher, die Hündin legt sich, flach, duckt sich zitternd so tief es gar nicht geht, kreuzhohl den Bauch: so gehorsam! am Boden, und du jedesmal so stolz über soviel Demut, Disziplin, und du so mutig kommt dir: fffffttttt! oft über Lippen, Verbotenes findest du immer, immer mehr, klingt mir das fffffttttt! wie fffffuttttt! und ich denke mir: das paßt zu dir, vielleicht machst du das auch bei der Tante, wenn ihr allein seid: fffffuttttt! über Lippen und: Leg dich! und sie legt sich, folgsam flach, kreuzhohl, wer weiß.
Von zu Hause weg gekommen, einen anderen Weg gegangen, haben wir uns nur noch selten gesehen, aus den Augen verloren, aus meinem Sinn verlustig, bis mir am Schluß die Mutter noch erzählt, du hättest sie besucht, allein, weil von der Tante schon lange getrennt, obwohl ihr doch beide Kinder getrieben du sie gegärtnert, die Hündin längst: fffftttt! Leg dich! tot und kommst zu meiner Mutter, weißgewordenes Handgeküsse, nach Herzschlag Oberstudienrat a.D.: ade!, ißt bei meiner Mutter, ißt gleich aus dem Topf, keine Notwendigkeit, für dich einen Teller anzupatzen, sagst du, versuchst noch immer, bei ihr zu landen, ganz der Alte: Kein Land in Sicht!
Die Prostata kläglich versagt: im Krankenhaus einen Schlauch in den Schwanz eingeführt, die Röhre schwanzhoch in das Rohr getrieben: Schwanzstoß! bei Männern, auch bei richtigen, sehr unangenehm, Anlaß zur Klage: oweh, oje! und während deine Pisse langsam durch die Röhre verrinnt, Leben sickert, ich mit Männern ficke: aber richtig!, mit richtigen! Männern, manche, oder auch nicht, besser nicht, jedenfalls: herziger Barmherzigkeitsakt! versagt dann: nackte Barmherzigkeit! auch dein Herz: Versagerherz! ohne besonderen Grund, die Trauertante voll Mitleidsmutter, ich grollvoll, früher, jetzt leideleer, schon längst ohne Angst, vor dir, gegen dich, trage nichts nach dir, was auch nachzutragen, trag du das Deine: zackzackmarschmarsch! nur schön selber: und aus!, ich fröhlich beständig Ständermänner, du: ausgeschissen! jetzt ganz bodenständig: bist ins Volle gelangt!, einen Schnittlauch könnte ich dir noch pflanzen, auf in dein Grab graben, nicht zu tief, nur so, zum Angedenken.

[kolik 15]