Sebastian Kiefer
Der neue Populismus in der Lyrikkritik
Eine provisorische Sondierung in zweieinhalb Kapiteln
Ein vergessener Ursprung der liberalen Lyrikfolklore
„Unschuldig muß er aufs Schafott / Der Pfaff vertröstet ihn auf Gott. / Der Henker still den Hals betrachtet. / Dann wird er säuberlich geschlachtet. // Es hat kein Hahn danach gekräht. / Nicht wahr, ein lumpiger Prolet. […] Doch tröstet euch! Es kommt die Zeit, / da wird man mit Talaren / Genauso abgekürzt verfahren.“ Ein jakobinisches Frühwerk Gernhardts? Bewahre, auch wenn die Pointe zum Schluss mit dem feinen Reim von „Talaren“ und „verfahren“ vielleicht von ihm stammen könnte. Es stammt aus der Feder eines, wie ein Laudator 1953 sagte, „im vollsten Sinne des Wortes Realist[en]“. Der Vorgänger in der Gernhardt-Linie hat es verstanden, „von dem formalistischen Experimentieren und von der kraß individualistischen Weltbetrachtung loszukommen“, und gelangt so nach Jahrzehnten schöpferischen Ringens zu „größte[r] Verständlichkeit, Einfachheit, Klarheit des Ausdrucks […]. Er führt in die deutsche Poesie lebendige, allgemein bekannte Redewendungen und Worte ein und bringt sie souverän in der regulären Rhythmik des Gedichtes unter.“18 Er war ein Stalinist aus ganzer Seele, dieser Laudator des Volkssängers Erich Weinert, und lebte in Polen. Ein, zwei Jahrzehnte später war er zum Bundesanwalt der vernünftigen, aufgeklärten Literaturmitte emporgestiegen und ist das irgendwie bis heute geblieben. Er musste sich nicht einmal umgewöhnen, die Witze, die man einst besser hinter verschlossener Tür machte, durfte er jetzt vielmehr vor laufenden Fernsehkameras machen. Gut, man durfte Kafka sagen, ohne Angst haben zu müssen, in die Folterkeller zu wandern, und Joyce und Celan. Aber im Zentrum blieb er sich treu. Darauf ist er stolz. Die Sache mit der Vernunft, mit „der“ Realität, mit „Form“ und „Gehalt“, mit der Forderung nach Klarheit der Darstellungsmittel, das brachte er unzensiert aus der eisernen Mitte im stalinistischen Polen in die mittlere Mitte der Bundesrepublik durch. Antistalinistisch gewendet klang die stalinistische Lyrikfeindschaft im Namen der Vernunft so: „In der Prosa wird mit offenen Karten gespielt, in der Lyrik hingegen mit gezinkten. Bei ihr fanden immer schon jene Unterschlupf, […] die singen wollen, weil sie nicht denken können, die dichten müssen, weil ihnen das Schreiben unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet.“19 Vernunft ist eben Vernunft. (Weshalb sich die Literaturkritik der Gegenwart auch nach Einschätzung dieses Herrn im Talar selbstverständlich – 1970 ebenso wie 2002! – auf einem „beschämenden Tiefstand“ befindet.) Universal sozusagen. Daher konnte der Mann der doppelten Mitte zwanglos zum Zieh(groß)vater der Professorengalerie um Gernhardt werden. Zwei Integrationsheroen. Der eine führt jetzt theoretisch den „Kanon“ an, der andere mehr praktisch. Comic-Kids voll integriert unter steifen Gelehrten, Hanf-People hip integriert unter Jungbankern mit cultural glimpse. Die klassenlose Lesegesellschaft, Klopstocks Kommune, ist wieder da! Der formgeschützte Kalauer als geistige Mitte der zusammengereimten Nation. Vivat Sankt Robert, großer Pazifator, Comedy-Master der Philister und Parvenus. Volkstümlich, erbaulich, human und traditionsbewusst, formvollendet, Frotzeln übers Establishement inbegriffen, alles korrekt, wie bei Herrn Weinert. Nur’n biss’n spaßiger, lauter bestimmte Negationen mit Paar- und Kreuzreim.
Nun, es herrscht Meinungsfreiheit auch für Präzeptoren, und wir wollen hier auch nicht töricht einwenden, dass es durchaus das Anliegen eines erheblichen Teiles der Moderne war und ist, „tradierte Formen“ nicht zu verbannen, sondern im Gegenteil durch Innovation wieder innerlich zu begründen. Wenn sie dichtende Präzeptoren sind, stehen ihre Produkte naturgemäß unter einem gewissen Legitimationsdruck, zumal Hartung, was man früher wohl kaum ahnte, seine Gedichtversuche neuerdings als letzte große Fanale einer untergehenden abendländischen Epoche zu betrachten beliebt, die hinüberreichen in den nachsintflutlichen Dichtäon. Detering, der Hartung allenfalls bemitleiden wird, über kein Lustsensorium für rheinländische Sprachinstallationen und Mayröckers mild maniacs zu verfügen, genügt andererseits ein Satz, um zu beweisen, dass Hartungs Gedicht mit den „einprägsamen Fotos“ etwas vollkommen anderes ist, als es zu sein scheint – nämlich ein Paradebeispiel „lyrischen Dilettantismus“ im Sinne des Gelobredeten: „zu Flattersatz gebrochene Zeilen“ nur ohne Flattern, eher Handwerkslosigkeit im Quadrat. Denn natürlich ist der häufigste Grund, optisches Gleichmaß mit einem solchen Verdikt zu belegen, dass kein rhythmischer, klanglicher, semantischer, syntaktischer Mehrwert bemerkbar ist, der unabhängig von der äußerlichen Prätention auf durchgeformte Gestalt die Längenproportion rechtfertigt. Grenzfälle sind Figurengedichte, wie sie das Barock liebte. Deterings Argument, warum, was äußerlich als „lyrischer Dilettantismus“ daherkommt, keiner ist, sondern das Gegenteil davon, scheint darauf zu rekurrieren: „In fünfmal zehn Silben entwickelt sich eine Meta-Fotografie, die, indem sie gesetzten Anlass abschneidet, ohne Stilisierung zu zeigen vermag, was ‚immer‘ ist.“ Nun ging Deterings Hauptargument, warum Hartung’sche Verse nicht sind, was sie zu sein scheinen, erstens dahin, diese Oberfläche sei gerade deshalb so exorbitant, weil sie getragen sei von einer „verborgenen Ordnung“, die sich zugleich entziehe; zweitens hätte man als „subtilste“ Ausprägung des Hartung’schen Ironieesprits, der alles beseele, jene „nur Silben, nicht Versfüße zählende Metrik, die zart die Balance hält zwischen spröde prosaischem Duktus und rhythmischer Akzentuierung“, zu sehen. Wie sollen wir uns nun die Tatsache, dass ein ungelenker Beschreibungssatz in fünf Zeilen à zehn Silben gecuttet ist, aus jener magischen Mitte hervorgegangen denken, jener „Idee einer verborgenen Ordnung (und der Verborgenheit der Ordnung), einer Schönheit, die sich beinah verlegen ins Unauffällige und Ungefällige kleidet“?
Wem die Stratosphäre dieser Ideen nicht umstandslos zugänglich ist, denkt vorläufig vielleicht eher daran, dass Professor Hartung „die typographische Oberfläche, das Druckbild“, als Gradmesser der Seinsvergessenheit seiner dichtenden Zeitgenossen verstanden wissen wollte – als „Indikator für die jeweilige Mode“, sprich: Gradmesser der in wechselnden Gestalten sich fortzeugenden Handwerkslosigkeit. Die Äußerlichkeit des Druckbildes als Indiz für einen Mangel an Gestaltungssubstanz, das ist nicht ganz neu, leuchtet aber ein. Nun besteht Hartungs Gedicht offensichtlich aus einem konventionellen, durchaus unbequem zu sprechenden, da im zweiten Teil aus ungeschickt gereihten Teilsätzen bestehenden zweiteiligen Prosasatz: Aus ihm sind drei Kommata und ein Gedankenstrich entfernt worden und der Grund ist einfach – der Gedankenstrich nach dem zweiten Vers hätte eine optische Asymmetrie erzeugt, und diese Asymmetrie würde verstärkt durch das Bild der drei Kommata, die sämtlich in die zweite Hälfte fallen, und zwar an jeweils unterschiedlichen Positionen. Die optische Manipulation kann wohl kaum anders denn Spielerei, Legerdemain genannt werden – was nicht zuletzt dem Geist des barocken Piktoralgedichtes widerspricht, das im Regelfall die optische Gestalt aus innerer Versnotwendigkeit zu begründen suchte: Es sollten, heißt es etwa bei Schottelius, „die Reimarten nach erforderter Form des abzubildenden dinges gebrauchet“ werden. Dass der Prosasatz womöglich deshalb sperrig rucken soll und deshalb so unfluidal und belanglos sein soll, weil hier eine ‚ironische’ Selbstreflexion der Verlotterung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten im Medienzeitalter versucht sein sollte, ändert nichts – zumal man eine umgeschmeidige, bisweilen ungelenke, aber in Zeilenproportionen gecuttete Alltagsprosodie bei Hartung öfters findet, selbst in gebundenen Formen, in denen er wohl Gernhardt’sche Formbewahrerhöhen anstrebt. Was zuallererst heißt: Wilhelm Busch ist der Pound unserer Zeit, also sind wir Buschhandwerksmeister die little-big Pounds unserer Zeit. „Er war korrekt rasiert trug Ober- und auch Unterhemden / Er zischte Bier doch gab beim Fußball keinen Laut am Tresen.“ Top. Haut hin, und ganz kunstvoll steht sogar am Ende des Zeilenpaars dasselbe Reimwort wie in den davorgegangenen Paaren, ganz wie beim echten „Ghasel“ und seinen beits. Und natürlich ist die Interpunktionslosigkeit und Zäsurschwäche nicht Personalstil, sondern intrikates Handwerk, artifizielle Legerness wie beim echten Ghasel, und dass der Weingeist zum Eckkneipenpint mutiert, ist klarerweise die artistische Transfiguration der hohen Vorbilder in unsere fragmentierte Moderne. Merke: Hafis, Goethe, Lehrer Lempel sind eins; Schluss mit dem Erlesenheitskult, auf die Couch mit den neurotischen Experimental-Albträumern, die noch immer davon faseln, „Formen“ stünden unter „Legitimationszwang“. Sie sind doch einfach da. Man muss nur abschreiben, abzählen und passende Worte reintun. Und Stammtischlaune. Aber bitte nur professionell. Vivat Gernhardt.
Ihm zollt auch Hartungs Praxis, zwischendurch ganz seriös mit Larkin und Simic und Auden promenierend – das bekommt übrigens seinem eigentlichen Talent, einem wachen Sinn für die sprechende Episode und das rührend komische Detail, sehr gut –, erwartungsgemäß Tribut. Zum Beispiel mit gekalauerten Antisonettchen, die mit Anspruch auf Buffometaphysik holpern und stolpern wie nur irgendeins vom Großen Versöhnungsmeister Gernhardt: „Sie fragte Gibt es einen Gott? Er lachte / Sie weinte und er sagte Ja Marie!“ Sein Abschlussgedicht schickt Hartung dorthin, wo Gernhardt die seinen seit vielen Bänden schickt – in die bildungswillige Metaphysik des sprachtranszendierenden Schweigens und in die Abgründe der Sinnstiftungen überhaupt (und versetzt so glatt seine Rezensenten aus der Neuen Mitte in Ekstase): „Die jähe Kühle / inmitten der Hadesgestalten / – das könnte aus einem Gedicht sein / Blau käme mehrfach darin vor / einmal auch gülden / wüßte man nur was das meint“. Heißt das nun das Große aus dem Handgelenk schütteln oder das Große – cf. Blaues Klavier, Blaue Stunde, „Azur! Azur!“ – klein machen? Verkalauern? Aus der anfänglichen schwelgerischen Metapher, die sich nicht recht in die Zeilengröße stecken lassen will, so schlicht eine epische Brechung suchen und sich dann wieder hinauf ins Offene schwingen – ist das abgeklärte Wortökonomie oder Wortmikado? Ach, Leid an der Unvollkommenheit unserer Bezeichnungssysteme! Du großes Arkanum Ethymologie! Transit ins Ungesagte! Und jeder versteht sofort, was gemeint ist. Keine unnütze „Hermetik“, eher charmante bricolage mit Transzendenz im Huckepack.
Wenn es danach ginge, was solche Gedichten meinen, wollen und beabsichtigen, wären sie wohl tatsächlich meisterlich. Aber eine Meinung ist eben noch kein Gedicht, ein angelesener Wille zum Unsagbaren keine „Abgründigkeit“, eine Absicht, gerade wo sie sich sofort mitteilt, keine Form. Hartungs Produkte sind zu redselig. Sie tragen ihre Absichten zur Schau – weil sie bloße Absicht sind, die sich sekundär eine „Form“ sucht. Zusammensucht, hier ein bisschen abschneidet, dort anstückelt. Und das sieht man ihnen an. Sie sind offensichtlich gemacht – das verführt Hartung dazu, unentwegt Valérys Poetik des Machens untern Arm zu klemmen. Aber seine Gedichtlein sind nicht nur gemacht, sie sehen auch so aus: Sie wären gar nicht fähig, die einfachen Handkniffe, denen sie ihre Existenz verdanken, zu verbergen – weil sie nur aus Handkniffen bestehen, durchaus hübschen, manchmal gescheiten oder anekdotisch anrührenden. Durchaus konsequent ruft Hartung huldvoll Celans Ethymologisieren an: Handwerk – eine „Sache der Hände“. Dagegen lässt sich so im Allgemeinen wenig sagen, auch wenn es an sich weniger eine Erklärung als eine Vermeidung derselben ist und Valéry sich dabei im Grabe drehen dürfte. Aber der Weihrauch und die artistische Magie, die Hartung seinen Handgriffen mit solchem Antichambrieren bei den großen Zauberern sichern will, das alles ist, mit Verlaub, Erbschleicherei.
(Auszug)
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