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Eveline List

Die Polemik und das Unbewusste


In jedem Fall ist die Lust an der Polemik auch eine autoerotische, insofern Sprachproduktion eben körperlich fundiert ist und Körperkontrolle und Spracherwerb in der infantilen Entwicklung ja auch Hand in Hand gehen. Von der körperlichen Abfuhr zum Wort ist es ein großer Schritt, von dort zum komplexen Gedanken und zur Schrift braucht es noch viel Selbstkontrolle und Entsinnlichung, also Triebverzicht, als Voraussetzung der Abstraktionsleistung. Die meisten Schreibenden kennen die Qual vor dem weißen Blatt, wenn um Formulierungen gerungen wird ebenso wie die Lust des „Hemmungslos-Drauflosschmierens“, wie ein Autor es einmal formulierte.
Darüber hinaus ist die Sinnlichkeit auch eine wichtige qualitative Dimension eines Textes. Die Kunst besteht dabei eben darin, das sinnliche und affektive Moment tatsächlich in die Sprachgestaltung einfließen zu lassen. Wo das nicht gelingt, kommt es leicht zur Formalisierung der Sprache, sofern die Sinnlichkeit verdrängt gehalten werden muss, oder aber der Affekt geht in die Performanz. Übergroße Heftigkeit der Affekte erschwert auch die Übereinstimmung von Wortsprache und Emotionalität. Der Affekt fließt entweder in die Ästhetik der Formulierungen oder in die Stringenz der Argumentationslogik oder er bleibt virulent und bindet an eine Welt der Bilder, Töne, Gerüche und Berührungen, eben sinnliches Erleben jenseits der Sprache, gegenüber welchem der Text nicht bestehen kann.
Gerade in der Polemik spielt auch die Lust am Artikulationsakt oft eine Rolle, wenn das Schreiben die Erregung nicht binden kann und neben den Inhalten und der Sprachform es auch noch der Stimme, Mimik und Gestik bedarf, um dem inneren Ansturm Ausdruck zu verleihen. Die Besetzung des Sprechakts ist noch sehr im Motorischen und Oralen verhaftet, und die Formulierungslust, besonders wenn sie stark aus inneren Bildern und Lautvorstellungen schöpft, erlaubt erst durch die Artikulation den vollen Genuss aus gedanklicher Brillanz und szenischer Darstellung.
Jedes Schreiben und An-die-Öffentlichkeit-Treten impliziert neben den offensichtlichen auch imaginäre Adressaten in imaginären Szenen, von welchen ein geringer Teil etwa auch in Form von Tagträumen bewusst wird. Auch jede Polemik hat neben den bekannten noch geheime Gegner, die in der Regel aber die Innenwelt der Polemiker nicht verlassen, und nur selten können Teile dieser Innenwelt rekonstruiert werden. Der oben erwähnte Fall von Fritz Wittels ist in dieser Hinsicht ein ungewöhnlicher, und natürlich sind seine Mitteilungen vielfach überarbeitet und mit bestimmten bewussten und unbewussten Absichten zu Papier gebracht worden. Offenbar hat es eine Veränderung seiner Begierden gegeben: Ein Wechsel des Objekts von Kraus zu Freud, eine Sublimierung der Ziele und sichtlich den starken Wunsch nach Rehabilitierung beim Begründer der Psychoanalyse und seinen Anhängern.
Das aggressive Moment ist essenziell, auch wenn viel Mühe darauf verwendet wird, das zu verschleiern. Die Polemik steht im Dienste feindseliger Strebungen und bedient sich oft einer Technik der Schmähung, die auf die Verführung eines Dritten gegen den Feind abzielt. Dass der Gegner klein, niedrig, verächtlich, lächerlich oder dumm gemacht wird, schafft auch den Genuss seiner phantasierten Überwindung, „den uns der dritte, der keine Mühe aufgewendet hat, durch sein Lachen bezeugt“.6
Die Polemik kreiert auch eine Ausnahmesituation, von der Art eines Festes, wo unter vorgegebenen Bedingungen verbotene Lust in beschränktem Umfang erlaubt ist, um insgesamt das Verbot wirksam zu halten. Wir dürfen einen Gegner attackieren, ihn lächerlich machen, entwerten, eben auch um den Schritt zur Tat zu vermeiden, und das umso mehr, je mehr Lustgewinn wir dem Publikum verschaffen, diese Lust ist gewissermaßen das Bestechungshonorar für die Erlaubnis zur Grenzüberschreitung. „Die Lacher auf seine Seite ziehen“ beschreibt genau diesen Vorgang der potentiellen Korrumpierung. In der Position des Dritten kommt natürlich neben der durch Aufwandsersparnis erreichten Lust noch jede Menge primitive Lustentbindung als Schadenfreude, Neugierde, Sensationslust usw. zur Entladung. Bekanntlich ist das Lusterleben besonders groß, wenn die Polemik sich gegen „Großes, Würdiges und Mächtiges“ richtet, „das durch innerliche Hemmungen oder äußere Umstände gegen direkte Herabsetzung geschützt ist“7.
„Der Humor“, meint Freud, „hat nicht nur etwas Befreiendes, wie … die Komik, sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes … Das Großartige liegt offenbar im Triumph des Narzißmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs. Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, daß ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahegehen können, ja es zeigt, daß sie ihm nur Anlässe zu Lustgewinn sind. … Der Humor ist nicht resigniert, er ist trotzig, er bedeutet nicht nur den Triumph des Ichs, sondern auch den des Lustprinzips, das sich hier gegen die Unlust der realen Verhältnisse zu behaupten vermag. Durch diese beiden letzten Züge, die Abweisung des Anspruchs der Realität und die Durchsetzung des Lustprinzips“8 wird die Bedeutung der Affektivität sichtbar.
Freud spricht von einer „humoristischen Einstellung“, und entsprechend lässt sich eine „polemische Einstellung“ vermuten, die eben das kriegerische, kämpferische Moment in den Vordergrund stellt, sich sonst aber weitgehend der Mechanismen und intrapsychischen Dynamik von Witz und Humor bedient.
Die öffentliche Polemik ergänzt den triumphalen Lustgewinn durch den real gelebten Sadismus, der sich gegen den Gegner wendet, und dessen Zurschaustellung, sodass der Triumph durch die imaginäre, manchmal auch reale Verstärkung aus dem Publikum sich potenziert und das Phantasma der eigenen Unverletzlichkeit sich mit der Demontage, im Extremfall der Vernichtung des Gegners grandios paart. Es handelt sich letztlich um einen Lustgewinn im Dienste der Aggression, aber auch im Dienste des Intellekts, also eine Gleichzeitigkeit von Triebabfuhr und Triebabwehr, was die besondere Intensität ausmacht. Die intellektuelle Qualität der Polemik hängt an der Position auf dem Kontinuum vom Gedanken zur Tat in der Art, dass ein Höchstmaß affektiver Intensität in den Gedankeninhalt und die Formulierung fließt. Am anderen Ende ist das Wort, das entweder direkt in die Handlung fließt, von ihr begleitet wird oder sie unmittelbar vorbereitet.
Das reale und das imaginäre Publikum sind voneinander verschieden. Die Kämpfe gegen den konkreten äußeren Feind speisen sich affektiv vor allem aus unbewussten Quellen und alten Feindschaften. Wahrscheinlich ist aber das beständigste, umworbenste und unerbittlichste Publikum das eigene Überich des Polemikers. Vor ihm zu bestehen, erspart die ärgsten Qualen und bringt den größten Sieg im schwierigen Konflikt zwischen Mordlust und Tötungsverbot.

Ausschnitt

[kolik 30]