Monika Helfer
Lady, kommen Sie, ich werde Sie erlösen
Ich sah eine Blutspur im Schnee. Ich kam vom Friedhof, auf dem unser Mädchen
begraben liegt. Die brennenden Kerzen lagen in engen Schneemulden. Ich hatte
Rosen die Stiele abgeschnitten und die Rosenköpfe in den Schnee gedrückt. Am
Grabkreuz hängt ein Foto, auf dem unser Mädchen eine Zigarette raucht. Sie ist
die einzige Raucherin auf dem Friedhof. Das hätte ihr gefallen. Es war früher Abend.
Die Blutspur führte vom Eingang des türkischen Lokals weg Richtung Kindergarten.
Der Mann – ich nehme an, dass es ein Mann war,weil nämlich seine Schuhabdrücke
groß und breit waren – konnte wohl nicht mehr gerade gehen, er muss sich vorgebeugt
haben, und so ist das Blut von ihm abgetropft.Vielleicht hatte er einen guten
Anzug an und wollte ihn schützen. Seine Fußabdrücke bildeten bald einen Kreis,
dort musste er stehen geblieben sein.Warum bin ich nicht in das Lokal gegangen
und habe nachgefragt? Die Spuren sahen frisch aus. Man hatte die Rettung nicht
gerufen, man hatte den Mann einfach alleingelassen.War er betrunken? Seine Spur
führte zum Krankenhaus. Davor war sein Körper in den Schnee gefallen.
Mein letztes Gespräch, bevor ich das Flugzeug nach Havanna bestieg, führte ich vor
dem Flughafengebäude in Zürich mit einer Zigeunerin, besser gesagt, die Zigeunerin
führte ein Gespräch mit mir. Sie wollte mir meine Zukunft voraussagen.
„Niemals“, sagte ich.
Da fragte sie, ob ich Milch hätte, Kaffee, Bohnen, sie wollte nur Bohnen.
„Nein, ich muss einchecken.“ Tut mir leid.
Ob ich gefrorenes Fleisch für ihren Mann hätte.
„Nein, das habe ich nicht. Ich habe nur meinen Koffer. Ich muss jetzt hinein.
Bitte!“
Ob ich Regenschuhe hätte.
„Ich fliege gleich weg, wie soll ich da tiefgefrorenes Fleisch bei mir haben?“
Geld für Fleisch wollte sie. Geld für sich. Geld für Schuhe.
Ich erzählte ihr, warum, weiß ich auch nicht, es war mir so dringend und
drängend, es zu erzählen, dass unser Mädchen gestorben ist.
„Welche Kleidergröße hat sie gehabt? Mach ein Paket für meine Kinder, wenn
du wieder zu Hause bist. Ich gebe dir meine Adresse. Du brauchst ja die Sachen
von deiner Tochter nicht mehr. Es ist auch besser, wenn nichts mehr von ihr bei
dir ist.“
Ich gab ihr Geld.
Dass ich viel Glück haben werde, prophezeite sie mir. Alle würden mich lieben,
ich würde gesund bleiben und alt sterben.
Dann in Havanna – einen Sprung nur war ich auf der Straße. Es war so schwül,
dass mir das Kleid nach drei Schritten schon auf der Haut klebte. Ich rannte zum
Lift und hinauf in mein Zimmer. Im Zimmer lief die Kühlanlage. Es war kalt wie
im österreichischen November. Ich zog Strümpfe und ein Flanellhemd an und legte
mich unter die Decke.
Ich hatte meinem Mann von der Blutspur im Schnee erzählt. Er beruhigte mich
und sagte, ich soll nicht gleich eine Kriminalgeschichte daraus machen, wahrscheinlich
war es ein Betrunkener, der sich angestoßen hat. Er sagte:
„Du brauchst Abstand. Du wolltest doch lange schon nach Havanna. Fahr hin.
Ich kümmere mich um das Grab unseres Mädchens. Ich verspreche dir, dass immer
alle Kerzen brennen.“
Ich schlief. Mein Mädchen kam und sagte, mein Mann und ich müssen sie mit Wasser
überbrühen.Wir konnten das nicht. Dann muss ich es selber tun, sagte sie und überbrühte
sich. Sie wurde dunkel wie Nussholz. Sie griff sich an wie hartes Plastik. Es
knackte in ihrem Körper und dann wurde sie etwas weich. Ihr müsst mich so lange
streicheln, bis ich wieder gesund bin, sagte sie.
Ich war erst am zweiten Tag in Havanna aufgewacht. Für zwei, drei Stunden.
Mehr nicht. So erschöpft war ich.
Mir wurde von zwei Uniformierten aufgetragen, den Pass meines Mädchens
herzuzeigen. Ich ging in ihre Wohnung in der Haberlgasse in Ottakring, die Vorhänge
warfen ein gnädiges Licht auf das Chaos.Wie ich hatte sie Vorhänge geliebt, gelb,
orange, rosa, Schleier von der Decke zum Boden. Es roch nach Zigarettenrauch. Im
Aschenbecher brannten noch zwei Zigaretten. Mein Mädchen hatte die Angewohnheit
gehabt, eine Zigarette an der anderen anzuzünden, hatte eine vergessen und eine
zweite angeraucht.Wäschehaufen lagen herum, ihr Schlafanzug aus Flanell mit der
Aufschrift „Gute Nacht, mein Kind, der Abend war heute so schön“. Aus einem
Wäschehaufen kroch ein winziges Fräulein, das sagte:
„Bitte, verraten Sie mich nicht! Ich habe die Erlaubnis, mich so lange zu verstecken,
bis die Gefahr vorüber ist.“
„Welche Gefahr?“, fragte ich.
Da bewegte sich ein zweites und ein drittes Fräulein unter dem Kleiderhaufen.
Das winzige Fräulein sagte: „Das sind meine kleinen Brüder.“
Ich sagte:
„Aber das sind doch Mädchen und nicht Buben.“
Und sie, das winzige Fräulein:
„Sagen Sie bitte niemandem, dass Sie uns gesehen haben. Bitte!“
Der Kellner brachte mir zwei warme Rosinenbrötchen zum Frühstück. Und aufgeschnittene
Früchte, die ich nicht kannte.
Was für ein Abenteuer! Ich überquerte die Straße zum Park. Ich bin eine Frau
mit erwachsenen Kindern, ich rieche nach Sheliane, und mein Haaransatz ist frisch
gefärbt.
Wieder sah ich frisches Blut. Es war auf der Alameda de Paula.Wieder folgte
ich der Spur. Blut diesmal wie aus der Flasche gespritzt. Einem schwarzen Hund
tropfte Blut aus dem Ohr. Er hielt vor einer Schachtel. Einem Karton, in dem man
große Geräte transportiert. Eine sehr alte Frau wohnte in der Schachtel. Dass sie eine
Heilige sei, wurde gesagt, das stand auch in einem Fremdenführer. Sie trug einen
Regenmantel. Sie beugte sich zu dem Hund nieder, presste ein kleines Gefäß
an sein Ohr und fing das Blut auf. Der Hund winselte. Sie hob ihn hoch und legte
ihn vor sich auf den Schachteldeckel. Er ließ alles mit sich geschehen. Sie murmelte
auf ihn ein.Vor der Schachtel stand eine Silberschale mit Münzen. Sie sah
mich an und sagte, ich solle mir ruhig Geld nehmen, wenn ich wolle. Natürlich
wollte ich das nicht. Ich stand unschlüssig da.
Nun schob sie die Kapuze zurück und bedeutete mir, näher zu kommen. Der
Hund lag vor ihr wie eine Speise. Sie zog mich mit ihrer faltigen braunen Hand zu
sich nieder und strich mir über das Haar.
„Geh in die Totenstadt“, sagte sie. „Weißt du, wo die ist? Weißt du es? Sag einfach,
ob du es weißt oder nicht.“
Woher hätte ich das wissen sollen.
Sie redete weiter. „Es ist fünf Querstraßen nordwestlich der Plaza de la
Revolución. Du wirst ein Grab vorfinden. Dort kannst du bitten.Wichtig ist die
richtige Zeremonie. Pass auf, ich will es dir erklären: Es ist das Grab von Amelia
Goyri de la Hoz und ihrem Kind. Sie starb bei der Niederkunft. Das Kind wurde
zu Füßen der Mutter ins Grab gelegt. Ein Jahr später öffnete man das Grab. Da lag
das Kind in den Armen der Mutter. Das ist ein Wunder. Siehst du das auch so? Sag
einfach, ob du das auch so siehst oder nicht!“
Ich sah das auch so.
„Amelia“, fuhr sie fort „besitzt Heilkräfte, und du kannst dir von ihr ein Wunder
erbitten. Du musst dreimal mit dem Messinggriff auf den Grabstein klopfen, um
die Heilige im Innern auf dich aufmerksam zu machen. Lege deine Lieblingsblumen
auf das Grab, nenne deine Bitte und entferne dich, ohne der Statue den Rücken zuzuwenden.
Hast du das verstanden? Sag einfach, ob du das verstanden hast oder
nicht!“
(Ausschnitt)
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