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Elfriede Czurda


Ohne Titel


Von weitem hört Anna schon Sirenen, viele Stimmen brausen auf. Sie biegt um die Ecke, eine wogende Menge skandiert Sprüche, die scheppernd aus einem Megaphon schallen, alle schreien mit. Auf der Höhe des Gloria-Kinos ist die Menge am dichtesten, dort recken sich Arme hoch, ballen sich Fäuste über den Köpfen. Pflastersteine poltern, explodieren, Aufschreie, Knüppelschläge, Wasserwerfer. Urplötzlich kehrt die Woge der Bewegung um und wälzt sich auf Anna zu, ihr Herz steht still vor Schreck und rast dann. Erst rennen Einzelne, dann immer mehr, Berittene stöckeschwingend hinterher aus dem dichtesten Gewühl direkt in Annas Richtung.
Anna rennt.
Im Kopf rennt ihre Kopie in Panik mit der schreienden Menge vom Rembrandt Plein, auf dem ein riesiger Schwarm junger Leuten grad noch saß und tratschte, sich vergnügte, Joints rauchte, indische Schals und billigen Silberschmuck besichtigte, die milde Frühlingsluft genoß. Erster Mai. Volksfest. Fest der Arbeit. Da zerbirst eine hölzerne Obstkiste, die grad noch ein Sitz war, eine zweite, weitere, alle springen auf, schreien und rennen. Explosion, Rauch steigt auf. Erstickender Qualm zieht über den Platz. Gummiknüppel, dreschende Berittene. Alle rennen. Anna rennt mit, sie rennt um ihr Leben, in eine der engen Gassen, sie sitzt in der Falle, alle drängen hinein in diesen verstopften Trichter, hastig, atemlos stürzt sie in ein Hotel, an dem sie fast vorbeigerannt ist. Gerettet. Jetzt, vom sicheren Fenster aus, schaut sie hinaus in Tumult und Rauchschwaden, Leute mit Tüchern, Jacken, Mützen vor dem Mund. Sie rufen, husten. Lauter Helden da draußen, die der Gefahr trotzen, Anna sieht sich, aus der sicheren Distanz des Innenraums, rennen.
Und sie rennt gegen den Strom zum Gloria-Kino, bei der Glastür schlüpft sie hinein ins Foyer, will hinter die zweite Glastür - die äußere Glaswand muß jeden Moment zu Bruch gehen, aber die Kartenabreißer lassen nur Leute mit gültiger Kinokarte durch, Kinokarte? an der Kinokasse sitzt niemand, jetzt beginnt keine Vorstellung. Draußen prasseln Pflastersteine. -
Annas Kopie sitzt am Fenster in Dodsons Teahouse vor einer Tasse Liptons, schaut die Straße hinunter zum Speakers Corner, der Teebeutel macht eine Pfütze auf der Untertasse. Seit einigen Wochen übt sich Anna in Weltläufigkeit, hat das Dorf, die Provinzstadt, das Land verlassen, ist aufgebrochen, wohin, weiß sie noch nicht so genau. Weit weg von kleinen Dörfern. Sie hört Lautsprecher, da schwenkt am Ende der Straße auch eine Prozession ein, geführt von den Lautsprechern, nein, kein Begräbnis, auch nicht Fronleichnam, bunte Haufen junger Leute in Annas Alter, aber Studenten, Großstadtpflanzen, die Transparente schleppen, Sprüche skandieren, reden, lachen, den Gaffern zuwinken, die am Gehsteig stehen, schauen, kommentieren, die Provinzlerin Anna sitzt eingeschüchtert vor ihrer Teetasse und schaut und schaut. Bei der Vietnam-Demonstration, die den Verkehr lahmgelegt habe, habe es bei der Schlußkundgebung im Hydepark einen Toten gegeben, hört Anna abends im Radio ihres Au-pair-Zimmers. -
Draußen fliegen nach wie vor die Pflastersteine - Schutzhelme, Schilder, Schlagstöcke, Menschenknäuel, ein Demonstrant, der sich unter einem Schlagstock wegduckt, gerät beim Aufrichten in die Schußlinie eines Steins, der ihn an der Schläfe trifft, er stürzt, im Fall rutscht ihm seine weiß-schwarze Vermummung vom Kopf, wie ein lebloses Paket blockiert er die Kinotür, blaß, bewußtlos, blutend das kindliche Gesicht.
Jetzt sitzt Anna in der Falle, jetzt kann sie nicht hinaus, draußen die Schlacht tobt weiter, der Verletzte ist eine Barriere vor dem Fluchtweg, Anna hat Todesangst. Der stirbt jetzt vor ihren Augen! Er ist umringt von Polizisten, die über Funk einen Krankenwagen anfordern.Und sie kann nicht weg!
Das Wort Zivilcourage geht Anna durch den Kopf, es hat aber keine Verbindung mit der Situation hier. Der Brunnenabgrund im Lager zieht sie magisch hinunter. Die Angststarre schützt sie davor, vom Rand der Welt zu kippen, kleine Agenten jagen Unmengen Adrenalin in ihr Blut, und der Blutandrang jagt sie hinaus, treibt sie weiter und weiter, immer neuen Schreckensszenarien davon.
Anna kommt zwei Tage früher als geplant von einem Studienaufenthalt im Ausland zurück, wird die Mutter überraschen.
Sie schließt auf, auf das Klingeln reagiert niemand. Es riecht nach abgestandenem Essen und Fäulnis. In der Küche sieht es chaotisch aus. Ameisenkolonnen ziehen eilig über Teller, auf denen alte Essensreste kleben. Mückenwolken über den Schüsseln.
Anna schaut in die andern Zimmer. Dasselbe Chaos.
Sie räumt auf.
In Annas Kopf sucht die Mutter hektisch ein Dokument. Sie verschwindet im Nebenzimmer und kommt Stunden nicht zurück. Sie sucht Annas Geburtsurkunde. Anna braucht sie morgen in der Schule. Dokumente verstecken sich an Leerstellen, die sich hinter ihnen sofort verschließen. Niemand findet sie wieder.
Anna hat die Geburtsurkunde vergessen. Bitte um Entschuldigung. Ich habe sie auf den Tisch gelegt, und dann war ich schon fast in der Schule, und als ich drauf gekommen bin -. Ich dachte, die Mutter hat sie mir in die Schultasche -. Sie muß ihr unterwegs herausgefallen sein, bestimmt. Soll ich suchen gehen? Nein, das Geld für den Schulausflug hat sie leider nicht bringen können, weil die Mutter hat gestern die Geldbörse -. Ja, entweder verloren, oder sie muß ihr gestohlen worden sein. Du bist eine Lügnerin. Du schreibst bis morgen hundert Mal! Jetzt schreibst du hundert Mal -. Und zwar bis morgen! Anna windet sich.
Was hat die Mutter gesucht? Was nur, um so ein Chaos anzurichten?
Anna räumt das Geschirr weg.
Abends schläft Anna natürlich nicht ein. Sie schämt sich für die Panik, die Feigheit, die Angst, die jetzt noch in ihr steckt. Das leere, entspannte, bleiche Gesicht, Anna kann denken, was sie will, blutleer und blutüberströmt steht es vor ihr. Nicht einmal mit Schlaftabletten schläft sie. Die machen müde und noch widerstandloser gegen die Bilder. Der Atem versteift sich und wird flach. Am Tag versperrt der Bewußtlose den Ausweg nach draußen, jetzt versperrt er den Weg zum Schlaf. Der Schlaf ist eine Bedrohung, die sie verschluckt und nie mehr ausspeit.
Ich führe eine Liste gegen -.
Anna steht auf und holt in der Küche zwei Äpfel, gegen die Schlaflosigkeit.
Vergessen!
schreibt sie beim Weg in die Küche auf die Liste. Dann liegt sie im Bett und tut kein Auge zu.
Anna erinnert sich an die zwei Kinder, die sich im tief verschneiten Hochwald verirren und in der bitteren Kälte einschlafen, für immer. Anna erinnert sich, daß sie auch einschlafen wollte in diesem rosigen Himmel hinter dem Schnee, der makellos zwischen den schwarzen Buchstaben hineinschimmerte in den Kopf. Sie ist nicht mehr Kind, leider.
Anna erinnert sich an den kleinen Nachbarjungen, der ein Raufbold ist. Natürlich hat er gleich Annas Angst bemerkt und sich mit ihr angelegt. Sie schleudern sich die fürchterlichsten Wörter entgegen, die sie kennen. Blöde Schnecke! Dummer Waschbär! Affige Ziege. Selber ein Hammerstiel! Kuh. Fauliger Milchzahn! Dumme Gurke. Jetzt reicht es. Anna rennt ihm nach. Mädchen raufen zwar nicht. Er bekommt aber jetzt eine Tracht Prügel von ihr. Er rennt wie ein Wiesel. Er bückt sich. Er dreht sich um und wirft. Der Stein trifft den oberen Vorderzahn, von dem Anna die Hälfte ausspuckt. Sie sitzt benommen im Gras und befühlt den Zahnstumpf. Er wackelt.
Der Verletzte in Annas Kopf schreit schrill. Dann jammert und heult er, endlich wird er ohnmächtig wie Anna, die sich sowohl jenseits des Bewußtseins wie auch des Schlafs befindet, in einem flachen Dämmerzustand. (Auszug)

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