Klaus Händl
Kind,
das Feiglinge liebte
Hanni war ein wildes Kind mit nachsichtigen Eltern. Oft warteten die Eltern
auf einen Satz. Sie war das einzige Kind und wurde verwöhnt, ihre Stimme
klang süß. Sie schmierte die Möbel mit Nachtcreme ein, um die
Kratzer zu tilgen, die sie im Übermut zog, sie wurde nicht geschlagen und
zerstückelte ruhig die Blumen und Fische, die in der Wohnung waren, sie
zündelte im Bett der Eltern und half ihnen beim Löschen. Im Mai wurde
sie zehn. Sie kam in eine höhere Klasse und hatte auf einmal acht Lehrer,
bisher war sie von einer Freundin ihrer Mutter, die wie der Vater in einer Schule
arbeitete
Auf dem Schulhof tobte sie wie wild. Sie war ein wildes Kind,
und sie war klüger als die
anderen Schüler. Sie übertraf
sie. Sie atmete gründlicher und rechnete schneller, und sie betonte beim
lauten Lesen die richtigen Stellen
wie im Traum. Ihre Lehrer,
Freunde
der Eltern, förderten sie nach Kräften. In Lettland und in Malaga
taten sich Goldgruben auf; die Freunde der Eltern brachten dem Kind in langen
Überstunden die nötigen Sprachen bei, Russisch und Spanisch. Bald
war sie vorbereitet, und sie war forsch und kühn. Sie steckten ihr schwierige
Denker zu, und Hanni erörterte sie mit
ihnen. Während die Mit
schüler
sangen, brütete Hanni über der Zukunft. Sie wollte die Wirtschaft
einst menschlich gestalten, wie es noch keinem gelungen war. Lösungshefte,
die den Oberschülern kurz vorm Abschluß zustanden, wurden ihr wortlos
vom großen Direktor in die frühreife Hand gedrückt, und sie
blieb allein mit ihren Lehrern und fand keine Freunde, aber sie brauchte Freunde,
und so suchte sie in den Lehrern danach. Sie staunte nicht schlecht über
die Scheu mancher Lehrer. Der schlaue Physiker Ralf, der flinke Engländer
Herman und die anmutige Turnlehrerin Ines waren
scheu. Wenn es aufs Ganze
ging, klemmte der vorlaute Ralf schnell den Schwanz ein, lächelte und entschuldigte
sich, dann war er still. Hilflos und schwach, weckte er Hannis Mitleid. Hanni
suchte die Freundschaft der schüchternen Lehrer. Sie setzte einen Fuß
vor den andern. Eine harte Zeit lag vor ihr. Sie mußte die Lehrer vorsichtig
drängen, denn sie waren vorsichtig. Sie mußte sie behutsam umgarnen,
denn sie waren verängstigt von früher her. Damals küßten
die wildwüchsigen Zwillinge Huber mitten im Ballspiel die Lehrerin; sie
hatten gewettet, und beide verloren, denn sie mußten zur Strafe die Schule
für immer
verlassen; Ines war tief verwundet und neigte zu Verfolgungswahn.
Hanni war lustig und hoffte zunächst, die Lehrer aufzuheitern. Vom Taschengeld
kaufte sie Lebkuchen ein, die Eltern erhöhten es ständig, weil sie
die Tochter von Tag zu Tag fleißiger sahen. Linzeraugen, Weihnachtsstollen,
Osterhasen
gingen an die Lehrer, die nicht ungern naschten. Sie schenkte
ihnen Zeichnungen, die sie im Urlaub zeigten
mit üppigen Blüten
im Haar und auf der Brust. Aber sie blieben verschlossen. Sie durfte die Lehrer
nicht zwingen, schließlich tat sie schüchtern, schwieg meist und
schlug die Augen nieder, sowie sie
angesprochen wurde. Dabei blieb
sie gewissenhaft. Sie bewältigte spielend den Stoff, und sie
war unermüdlich.
Die Lehrer sahen allmählich ein, daß dieses Kind nichts Böses
im Schilde führte, und sie ließen die echte Zuneigung keimen, die
Hanni wollte. Ehe sie redeten, schluckten sie und verschluckten sich dran, schluckten
erneut und verschluckten sich, stockten und schluckten und schwiegen erschrocken,
und die Kiefer wollten brechen. Sie strengten sich unaufhörlich an. Wie
traurig ihr Anblick, und Hanni genoß ihn. Standen sie frei im Raum, zuckten
sie häufig
zusammen. Duckten sie sich in die Ecken, fühlten sie
sich halbwegs wohl. Sie preßten sich an die Tafel und knirschten mit der
Kreide, selber zerfahren und bleich. Hanni sagte grad heraus, wie ihr zumute
war, und war im Fluß. Sie bedauerte die Lehrer. Sie blieben, wo sie waren,
und überraschten Hanni. So waren sie alle ledig aus Angst vor Nähe,
und sie bereuten ihre Entscheidung nicht. Damokles und Oedipus waren ihre liebsten
Gestalten. Sie waren ständig befreit. Aber sie waren versichert, sie zahlten
allmonatlich ein und schrieben die Summe im Todesfall dem Tierheim gut, denn
sie alle wollten die bedrohten Arten vor dem Aussterben retten; Herman war Pate
von indischen Kindern, und Ines brachte der kleinen Hanni in zahllosen Überstunden
unvergütet die Kurzschrift nah. Sie mußte sich jedesmal überwinden,
weil sie das Lehramt für Kurzschrift nicht hatte. Sie erzählte vom
Papagei, der erblindete, weil er die Krankheit versteckte. In freier WIldbahn
wäre er ausgestoßen worden, und so kniff er die Augen zu, wenn man
sich um ihn bekümmerte. Er stellte sich
schlafend und zeigte nicht,
daß er schwach war, bis es zu spät war. Ständig drohe das Leben.
Ralf kaufte für seine Nachbarn ein, die gebrechlich zuhause lagen. Täglich
aß er einen Apfel, um gesund zu bleiben. Die Nachbarn wußten es
und schenkten ihm Äpfel und Dinge, die sie nicht mehr brauchten
und
die ihn freuten. Auch Hanni war für Wohltaten gut. Sie ging den ärmeren
Nachbarn zur Hand, spannte die Wäsche auf und verschenkte frisches Geschirr,
das die Eltern ihr gaben, in rauhen Mengen. So müßt ihr nicht schrubben,
nicht spülen. Wie heißt du? Sie hieß Hanni. Aber ihr Vorbild
war Heidi
aus der Schweiz, wie sie über die Almen tollte und sich
mit dem frechen Peter um die Geißen balgte und verirrte Kitzlein aus der
Felswand holte. Die Lehrer hörten gern, sie seien scheu. Sie seien auch
bescheiden. Und sie waren hilfsbereit. Herman fürchtete sich vor dem
Regen
und entdeckte auf der Suche nach einer Ausrede für seine Angst
die
Kindheit; er meinte, sein Vater, der aber herzensgut war, trieb ihn seinerzeit
brüllend bei Donner und Blitz zum Betteln hinaus auf die Straßen,
und wie leicht locken die Münzen den tödlichen Blitz! Aber wer spendet
im Regen? Hanni durchschaute ihn bald und gewann ihn lieb. Er unterschied sich
in nichts von Ines und Ralf als durch den Körper und seinen Namen. All
ihre vorlauten Lehrer wies Hanni innerlich ab. Diese kannten Hannis Eltern und
bemühten sich um Hanni. Denn sie hatten die ruhigen fröhlichen Leute
gern. Einer liebte gar den Vater wie einen Bruder, ein anderer liebte die Frau.
Ines, Ralf und Herman waren nicht darunter; sie bewunderten Bauten, nicht Lehrer.
Hanni brauchte sie, die sich nach langem Hin und Her beinah gewinnen ließen.
Sie liebte die Feigen. In diesen Tagen stach sie der Hafer. Beherzt erstieg
sie einen Strommasten und schaukelte lang. Sie war eine junge Turnerin. Später
stand sie vor den Lehrern und schloß lauthals: "Ich habe nichts zu
fürchten !" Damit ging sie, die Lehrer bewunderten sie. Auf dem Heimweg
dachte sie
verliebt wie ein Backfisch an ihre Lehrer. Sie hätte die
Lehrer
am liebsten geküßt, aber der Mut, sie zu küssen,
fehlte ihr noch. Am Ende verjagte sie ihre furchtsamen Liebe
n. Bald wollte
sie sich getrauen. Sie wollte sich an ihre Lehrer schmiegen und sie umarmen.
Sie aß Risibisi, wollte aber dazu nichts trinken, ihre Mutter war besorgt.
Hanni solle möglichst viel trinken, empfahl der Arzt. Sie mochte weder
Apfelsaft noch Früchtetee noch Milch noch Milch mit Himbeersirup. Sie spornte
die Feiglinge an, ihr diesmal zu folgen: "Schaut mir zu! Gebt Obacht und
habt keine Angst! Ihr müßt ja sonst nichts unternehmen. Laßt
mich doch vorübersausen! Nehmt mich aber auf. Ich will euch zeigen, was
ich kann, und es wird euch hoffentlich begeistern. Ich will euch gut gefallen."
Hanni sprang voraus. Sie folgten ihr verhalten, sie schlichen wie bedrückt,
und Hanni war kaum einzuholen. Sie wartete lang auf ihre Lehrer, dann zeigte
sie auf einen Strommasten, der die Hochspannung trug, und kletterte hinauf:
Armdicke Nägel reihum machten ihn zur Leiter, und schon war Hanni oben
und
winkte ausgelassen. Hier war es eisig, und spränge sie nicht in den nächst
en
Momenten, wären die Finger und auch die Kniee so klamm, daß sie sich
nicht mehr aufschwingen könnte. Sie wußte, daß ein Fehler sie
das Leben kostete. Sie durfte den Draht nicht mit dem Masten verbinden. Sie
mußte ein wenig fliegen, um den Draht zu erreichen, nachdem sie den Masten
hinter sich ließ. Die Lehrer erstarrten. Nun stieß sich das Kind
mit erhobenen Händen, um nach dem Draht zu fassen und dann dran zu schaukeln,
von der letzten Sprosse ab
empor, verfehlte ihn knapp und streifte mit
den
gestreckten Zehen die Schaltung, die voller Strom war, den sie weiterleiten
sollte, am Rand, wo der Draht um den leidigen Masten gewickelt war. Ein Funke,
groß wie ein Flammenschwert, entstand an der Schaltung und sprang auf
Hanni über, sie selber war im Augenblick ein solcher Funke und blendete
drunten die Lehrer. Die Leitung zuckte und schnalzte Hanni hoch. Sie fiel auf
die
weithin schwebenden Drähte und hing darin, aber sie weinte noch
nicht. Ihr Rücken war zwar völlig versengt, aber sie spürte ihn
nicht, denn sie konnte kaum atmen. Sie war ausgepeitscht worden. Die feigen
Lehrer rührten sich nicht. Schließlich drückten sie ihre Gesichter
feig ins dunkelgrüne Gras und pißten, wie sie waren; sie konnten
nicht länger an sich halten. Es ging stundenlang. Rettet mich, ruft meine
Eltern, hauchte und hustete
oben die Kleine; Ines, klettere flugs zu mir,
und Herman, Ralf, werft mit Ästen, die mich bergen können, ohne euch
zu gefährden. Ihr Lieben, was für ein Schrecken; es tut mir ja leid!
Es ging stundenlang. Was für ein langer Nachmittag, lang wie eine leere
Halle. Keiner hörte das Kind, und sie taten
nichts. Sie konnten nichts
dagegen tun, sie lagen reglos im Gras. Sie waren nicht mutig. Sie halfen nicht,
und ein anderer kam nicht. Keiner fand sie. Hanni hing in der Luft, der Draht
wärmte sie, und sie verblutete. Mit ihrer letzten Kraft zog sich Hanni
zum Anfang des Drahts. Wie klein die Lehrer schienen; die Halme sah sie verschwommen
als grasgrünen See. In der Tiefe hätte sie die einzelnen Blätter
und Kolben erkannt. Aber das Gras ließ sich von fernher nicht trennen.
Sie bekam den tödlichen Schlag und blieb ein entflammter Bogen. Die Lehrer
zögerten noch immer, und Hanni starb. Sie waren feig. Sie zogen sich traurig
zurück.
[kolik ]