Gernot Wolfgruber
Mit weit
weggestreckter Hand
Den halben Sonntagabend hatte Adensam es aufgeschoben und aufgeschoben, Ismael
anzurufen. Schon im voraus war er völlig sicher gewesen, wieder nichts
zu sagen zu wissen, so wie er es auch zwei Tage zuvor nicht gewußt hatte,
als Ismael ohne jede Einleitung gesagt hatte: Meine Mutter ist gestorben. Adensams
erste Reaktion war da gewesen: Wenn ich nur nicht angerufen hätte; warum
habe ich auch anrufen müssen. Und dann hatte er schnell so zu tun versucht,
als könnte er Ismael die Schmerzen nachfühlen, aber er hatte nichts
als Verlegenheit gespürt, zwar gewußt, wie es für ihn gewesen
war, als ihn der Tod der eigenen Mutter überfallen hatte, aber er konnte
sich an die Gefühle dabei nicht mehr erinnern, nur ein paar Sätze
waren im Kopf, die er wahrscheinlich erst sehr viel später dazu zu sagen
gelernt hatte, genau hatte er nur noch in Erinnerung gehabt, wie peinlich ihm
selber die Verlegenheit der Leute gewesen war, denen er damals den Tod der Mutter
am Telefon mitgeteilt hatte, und er hatte gehofft, daß Ismael das zwischen
den herausgestolperten Sätzen rauschende Schweigen für Betroffenheit
und Mitgefühl halten würde, während es ihm selber nur um eines
ging: so schnell wie möglich zu einem Ende zu kommen. Sich irgendwie aus
dieser unhaltbaren Situation zu befreien. Ohne als kalt, als gefühllos,
als der sprichwörtliche Freund in der Not angesehen zu werden, der er,
das war ihm aufs deutlichste bewußt, zweifellos war. Er hatte ein paar
überflüssige Fragen gestellt, und Ismael hatte in tonlosen Sätzen
berichtet, daß er seit seiner Flucht aus dem Iran, die mittlerweile mehr
als sein halbes Leben lang her war, die Mutter nicht mehr gesehen und daß
er ihren Tod von seinem Bruder erfahren habe, gestern erst, eine Woche danach,
zufällig sei er den Bruder besuchen gefahren, und der habe ihm dann eben
nicht mehr verheimlichen können, was man ihn wegen seines Zustandes eigentlich
überhaupt nicht hatte wissen lassen wollen. Immer wieder hatte Adensam
nach Worten des Trostes gesucht, aber in seinem wie mit Werg oder feuchten Sägespänen
ausgestopften Kopf keine finden und wenn, dann nicht herausbringen können.
Als er nach dem Satz, ob er irgend etwas für ihn tun könne, den Ismael
gleich abwehrte, es endlich geschafft hatte, den Hörer aufzulegen, hatte
er das so leise und sacht getan, als könnte Ismael ihm das als das nicht
zustande gebrachte Mitgefühl anrechnen. Und nun, zwei Tage später,
am Sonntagabend, auf die vorsorglich leise und hoffentlich genug rücksichtsvoll
gestellte Frage, wie es ihm denn gehe, hatte Ismael gleich gesagt: Kannst du
mich zurück ins Krankenhaus bringen?
Adensam lobte sich dafür, daß er sich sofort und ohne Wenn und Aber
auf den Weg machte, obwohl er vorgehabt hatte, nach dem Telefonat sein kleines,
armseliges Fest zu beginnen. Und er wunderte sich, wie fordernd Ismaels Stimme
geklungen hatte. Überhaupt verstand er nicht, daß Ismael gerade von
ihm verlangte, ins Krankenhaus gebracht zu werden, wo doch ein Großteil
seiner Freunde, die er meistens Arschlöcher nannte, Taxilenker waren. Warum
hatte er sich keinen von denen bestellt? Er selber war doch ein viel ärgeres
Arschloch: wenn er allein daran dachte, wie oft ein einziges Wort von ihm genügt
hatte, um Ismael zu sich zu befehlen, oft mitten in der Nacht, wann auch immer,
wenn ihm nach Gesellschaft gewesen war. Und gleichzeitig ärgerte er sich
darüber, daß er sich schäbig vorkam. Es war ein zu ungleiches
Verhältnis zwischen ihnen: Er fühlte sich kein bißchen als Ismaels
Diener, wie der das von sich ihm gegenüber behauptete, was ihm auch sehr
entgegen war, genauso wie die häufigen Versicherungen Ismaels, daß
er ihn liebe, die ihm nichts als unangemessen, aufdringlich und zuweilen auch
sehr berechnend vorkamen. Möglich, daß er Ismael Unrecht tat, wahrscheinlich
sogar: so ungenau, wie er normalerweise über ihn dachte, konnte er ihm
nur Unrecht tun; aber all das war ihm nichts als peinlich. (Auszug)
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