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Hermann Peter Piwitt


Ein unversöhnlich sanftes Ende


Ditschi. Als Kinder im Krieg spielten wir Schlagball auf einer der Haupt-Ausfallstraßen der Stadt. Ein paarmal am Tag kam ein Auto vorbei; und hin und wieder im Jahr eine Militärkolonne. An einem sonnigen Morgen im Frühjahr fuhr ein junger Mann mit dem Fahrrad durch unser Feld, gefolgt von einer Frau seines Alters. Eben, als einer von den Stockhusens, der sonst nie traf, aufschlug, beugte der Mann sich zurück und rief ihr zu: Ist das, Fräulein Schulz, nicht ein wunderbarer Frühlingsmorgen? In dem Moment traf ihn die harte Lederkugel am Kopf. Er fiel vom Rad. Wir liefen weg. Und sahen aus sicherer Entfernung, wie er sich aufrappelte, das Rad aufhob, anschob und, die herbeieilende Gefährtin mit den Worten besänftigend, daß nichts passiert sei, nicht der Rede wert…!, sich in den Sattel zurückschwang. Seitdem hieß der kleinste Stockhusen "Fräulein Schulz", und immer wenn er aufschlug, rief alles: Achtung, der Frühlingsmorgen.
An einem Frühjahrsmorgen zwei Jahre später rückte der Feind ein, der Krieg war aus, und am Nachmittag spielten wir Fußball, nicht wie bisher auf der Straße, denn die war inzwischen gesperrt und voll von Panzern und Militärfahrzeugen, sondern auf einer Wiese nebenan. Eines Tages tauchte ein schlaksiger Junge mit einer brillantinegestärkten Schmachtlocke in der Stirn am Rand des Spielfelds auf. Er stand eine Weile so da in weißen Turnschuhen, die er dann "Badeschuhe" nannte. Und wenn ein Ball ins Aus ging, schnappte er ihn sich mit der Spitze und gab, nein, ditschte ihn ins Feld zurück. So wie das eben einer macht, der einem sagen will: Ich will mitspielen. Wir ließen ihn. Er wirkte weich in seinen Bewegungen und hatte Übergewicht; und doch ging er locker, fast federnd. Und dabei paddelte er über den großen Zeh. Und so spielte er und zog ab. Mit dem Außenrist. In seinen Badeschuhen. Ditschi, wie er dann hieß, zeigte uns den Schalker Kreisel: den Ball nicht direkt zuspielen, sondern in den freien Raum, in den dann der Mitspieler lief. Hepp, rief Ditschi, und: Cheerio!
Wir wählten damals vor jedem Spiel die Mannschaften neu. So, daß jeder mal, auch der Kleinste und Schlechteste, zusammen mit den Besten gewinnen und verlieren konnte. Aber einmal passierte es, daß die einen unerwartet hoch verloren, und die anderen setzten einen Kopfball nach dem anderen ins Tor, das aus zwei Mützen bestand und dem Jüngsten, der es sauber zu halten hatte, und das war ich. Wir hatten damals den Tick, jedes Wort mit 'o' enden zu lassen. Das hörte sich dann so an: Hasto duo eino Knallo? Und so hießen die beiden Mannschaften schnell "Glatzomanno" und "Müdomanno". Mit den "Müdomanno" blieb ich offenbar zusammen auch, als ich später im Verein spielte. Mit dem Kreisel traten wir gegen die Bauernjungen der umliegenden Dörfer an. Aber sie husteten uns was und droschen uns zusammen.
Aber da spielte Ditschi schon im ersten Club der Stadt. Und natürlich hatte er, wie jeder ordentliche Mensch, einen richtigen Nachnamen. Aber der tat nichts zur Sache und interessierte nur die Zeitungen, in denen er nun jeden Montag stand als der, der an allen vorbei, an dem niemand vorbei. Für das Territorium spielte er viele Male. Und noch immer, wenn die Wochenschau ihn zeigte, wirkte er dabei weich, schlaksig, fast pomadig. Aber machte er dann ernst, tanzte er die Gegner aus, glitt um sie herum, als habe sich die Brillantine irgendwann wie ein auratischer Film um seinen Körper gelegt.
Tatsächlich war er am Ende der einzige mir bekannte Mensch, der die Redensart beglaubigte, daß jemand wie ein Fragezeichen aussah. Zum Glück hatte er es da schon nicht mehr nötig, nach überhaupt etwas auszusehen. Er war längst Ehrenbürger der Stadt, besaß Mietshäuser und ließ es sich nicht nehmen, hieß es, im Verzugsfall auch mal persönlich zu kassieren. Und die Betroffenen waren so geschmeichelt, daß sie lieber mal auf eine neue Kinderkarre, den dringend notwendigen Wintermantel verzichteten, als einem wie ihm was schuldig zu bleiben.
So war ich auch nicht überrascht, als ich, vor einigen Jahren, in einen Findling am Eingang zu einem kleinen Stück Grün mit Büschen und Bänken im Zentrum des Viertels seinen Namen eingemeißelt fand. Man hatte das Grün zum Park erklärt und, nachdem Ditschi einen Verkehrsunfall nicht überlebt hatte, nach ihm benannt. Seitdem sitze ich oft da. Nicht unbedingt wegen Ditschi, sondern weil es dort an ersten sonnigen Frühlingstagen wärmer als woanders, weil windstill, ist. Auch sind große Läden gleich in der Nähe und ein Blumenstand mit einer Hutzel, von deren angegrauten Rosen meine Frau, die Blumen liebt, behauptete, schönere und billigere gebe es nirgendwo.
Ich sitze da und sehe den Wolken zu, nicht weil sie mich interessierten, sondern weil sie hin und wieder die Sonne freigeben, die mir allein noch etwas sagt. Und hin und wieder lasse ich mir von den Leuten, die auch dort sitzen, von ihrem Leben erzählen, und von Rasse, Temperament und Schicksal ihrer Hunde. Und manchmal auch von Ditschi. Und wenn ich mir vorstelle, daß der "Park", oder was da so heißt, der grüne Fussel, der Länge nach Ditschi darstellte, bloß in groß, und hinten, oben, wäre sein Kopf, dann sitze ich etwa in Höhe seiner Badeschuh.
Kürzlich setzte sich eine ältere Frau dazu. Ich erinnere mich nicht an sie. Und nur schwach daran, daß ihr Hund, ein Yorkshire-Terrier, ihr ähnlich sah; er hätte ihr Sohn sein können. Woran ich mich aber genau erinnere, war unser Gespräch, nachdem sie mir erzählt hatte, sie ginge hin und wieder einem Senior zur Hand.
Und das ging so:
Sie: Da habe ich ihm Essen gekocht, und was tut er? Nimmt sich die Zähne raus und legt sie neben den Teller. Hab ich keinen Bissen mehr runtergekriegt. Und ein paar Tage drauf, wie ich komme, sitzt er auf dem Klo und hat die Tür auf.
Ich: Wie alt ist er denn?
Sie: Siebenundachtzig.
Ich: Aber dann ist er vielleicht schon nicht mehr ganz bei sich?
Sie: Von wegen "nicht mehr bei sich"... Mir in den Hintern kneifen kann er immer noch ganz gut!
Danach sprachen wir nichts mehr. Und ich dachte daran, ob ich wohl mit ihr schlafen könnte, mit einer (wo ich sechzig bin) schätzungsweise fünfzehn Jahre Älteren. Daran, ob ich mich wohl mit dem Hund vertragen würde, der offenbar nichts konnte, als mit dem Schwanz zu wedeln, der gleich hinterm Kopf begann; und daran, daß manchmal junge Frauen mit noch ganz anderen Ruinen rumrappelten. Und dann dachte ich, was wohl Ditschi zu all dem sagen würde. Wahrscheinlich Hepp und Cheerio. (Auszug)

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