Thomas Ballhausen
Vorwärts, im Rückwärtsgang
Am Ende sind alle betrunken, bekifft oder voll mit irgendwelchen
Pillen.
Matthias Altenburg: Landschaft mit Wölfen
Von einer anstrengenden Reise zurückgekehrt werfe ich erschöpft meine
Sachen auf einen Haufen und stelle meinen Wecker, der mich schon wenige Stunden
später aus traumlosem – doch überraschend erholsamem – Schlaf
reißt. Weniger ferngesteuert als sonst dusche ich und ziehe mich um, vergewissere
mich auf der Einladungskarte nochmals der Adresse, wo die Party, zu der ich mich
aufmache, stattfindet. Ich packe eine Flasche meines Lieblingsweins sorgfältig
ein und nehme in meiner übermütigen, guten Laune ein Taxi zur nicht
allzuweit entfernten Wohnung der Gastgeber.
Dort angekommen wundere ich mich über den sanften, bläulichen Schein,
der aus den Fenstern des entsprechenden Apartments auf die Straße fällt.
Ich läute an der Gegensprechanlage, und kurz darauf ertönt das Summen
des Türöffners. Ich eile in das richtige Stockwerk, und noch während
ich die Stufen hinaufhetze und mich über die Ruhe im Stiegenhaus wundere,
versuche ich mich an die gesamte Einladungskarte zu erinnern, und dann fällt
mir schlagartig ein, daß ich tatsächlich einen Tag zu spät zum
angekündigten Fest erscheine.
Doch ich stehe schon vor der geöffneten Wohnungstür, gehe durch das
leere Vorzimmer und rufe einen Gruß in die große Wohnung: doch keine
Antwort. Hinter der verschlossenen Wohnzimmertür kann ich einen Fernseher
hören, ich habe die Hand schon auf der Klinke, doch im letzten Moment entscheide
ich doch noch anders. Ich stelle die Flasche im Vorzimmer ab und schleiche davon,
so als wäre ich nie vorbeigekommen.
Das Wetter ist für die Jahreszeit noch überraschend mild, und deshalb
beschließe ich, zu Fuß nach Hause zu spazieren. Auf dem Weg zurück
höre ich beim Passieren eines Hauses eine Geigenmelodie. Ich bleibe stehen,
um ein wenig zu lauschen: An einer Stelle scheitert die musizierende Person =
sie hängt regelrecht, wie eine zerkratzte Schallplatte, und setzt immer wieder
neu an. Doch mit jedem weiteren Versuch, jedem folgenden Anlauf von einem angenommenen
Startfeld aus, rückt das korrekte Spiel in weitere Ferne, verzerrt sich mit
jeder Wiederholung.
Erst nach dieser Episode bringe ich den Mut auf, in den Postkasten zu schauen.
Neben den alltäglichen Reklamesendungen und Rechnungen, die sich im Laufe
meiner Abwesenheit angesammelt haben, ist tatsächlich auch wieder eine
Karte von ihr dabei. Ich erkenne ihre Handschrift, sie hat erneut nicht unterschrieben,
ich werde ihre Vorwürfe wieder nicht lesen: Das Spiel geht weiter.
In meiner Wohnung angekommen stelle ich mich vor die Weltkarte, die in meinem
Arbeitszimmer hängt, und suche mir den Ort, von dem sie mir dieses Lebenszeichen
hat zukommen lassen. Wie auch schon bei den anderen Sendungen, die auf meinem
Schreibtisch liegen, notiere ich das Datum des Poststempels auf einen kleinen
Notizzettel und hefte diesen mit einer Stecknadel auf den entsprechenden Bereich
der Karte. Dann trete ich zurück und betrachte die verschiedenen Zettel.
Wie ein mittelmäßiger Nachrichtensprecher bewege ich meine Hand über
der Karte, folge der Bewegung, die ihre Postkarten vorgeben: immer weiter weg
von mir, rücklings. Werte und geschätzte Zuschauer, es gibt bedauerlicherweise
vorerst keine Aussicht auf Besserung.
Ich lege eine Kassette in den Videorecorder ein, die ich kurz vor meiner Abreise
in einem dubiosen Geschäft erstanden habe. Auf dem Kartoncover posiert
eine bekannte Pornodarstellerin als relativ unbekannte, spärlich bekleidete
Comicheldin. Auf der Rückseite sind ein paar Fotos in erstaunlich schlechter
Qualität abgedruckt, der begleitende Text ist nur wenig ermutigender –
doch ich konnte damals nicht anders, als das Band zu kaufen. Die Bildqualität
ist denkbar schlecht, und statt der erwarteten Handlung eines B-Movies sind
auf dem Band nur die Aufzeichnung eines Shootings und einige langweilige Interviews
mit den Zeichnern des Comics enthalten. Nachdem ich die Kassette gegen ein Hardcorevideo
ausgetauscht habe, läutet das Telefon. Ich hebe ab, lasse das Band aber
weiterlaufen. Es ist eine Arbeitskollegin, die sich nach den Ergebnissen meiner
Reise erkundigt. Die Antworten kommen ganz automatisch aus meinem Mund, denn
ich weiß schon, wann sie was fragen wird. Sie telefoniert immer auf diese
Art und Weise. Manchmal höre ich sie im Büro: Sie stellt die gleichen
Fragen, und manchmal antworte ich halblaut vor mich hin, um unsere Kollegen
zu erheitern.
So gelingt es mir, ihr zu antworten und auf die abgefilmten Körperlandschaften
zu achten. Als ein Mann einer Frau ins Gesicht ejakuliert, halte ich das Band
an und spule es besonders langsam zurück, spiele die Szene erneut ab, dann
noch einmal: Picture-Step, Zeitlupe rückwärts, Bildsuchlauf. Ich lasse
das Band wieder weiterlaufen und achte auf Details wie absplitternden Nagellack,
schlecht verheilte Operationsnarben und Bikinistreifen, als meine Arbeitskollegin
plötzlich aus ihrem Gesprächsschema ausbricht und einen Fahrradausflug
vorschlägt. Der Gedanke an eine solche Unternehmung erinnert mich an einen
kleinen Unfall in meiner Kindheit und die Bezeichnung Rücktritt, die ich
immer damit verbinden werde: ein Wort, das für mich wie eine Bremse wirkt.
Flimmernde Bilder stellen sich ein, die sich in der Folge über die kopulierenden
Körper, die auf dem Bildschirm zu sehen sind, legen: eine Vorstellung von
mir, wie ich auf dem Fahrrad eines Freundes dahinbrause, von dem eingebauten
Rücktritt nichts wissen kann und nach einer abrupten, ungeplanten Bremsung
bis zum armbrechenden Aufprall auf dem Beton durch die Luft segle, dabei denke:
wie alles vollkommen stillzustehen scheint, während man rückwärts
fällt.
Ohne ihr eine endgültige Antwort auf ihr Angebot zu geben, beenden wir
das Gespräch nach einem längeren Schweigen, und ich schalte den Videorecorder
aus.
Später komme ich meiner Gewohnheit nach, in dem Becken, das sich auf dem
verglasten Flachdach des Hauses befindet, einige Längen zu schwimmen. Die
alte Faustfeuerwaffe meines Vaters habe ich wieder in ein Handtuch gewickelt,
das ich zusammen mit dem Bademantel auf einem der zahlreichen leeren Liegestühle
abgelegt habe. Wie an allen Abenden zuvor bin ich vollkommen alleine. Ich schwimme
meine Bahnen, mache eine Pause, tauche dann nochmals ins Wasser ein. Ich versuche
die Luft lange anzuhalten und den Blick durch die sich bewegende Oberfläche
zu genießen. In einem Moment von Panik glaube ich das Wasser zu Eis erstarrt
und tauche wieder auf, atme übertrieben tief ein, als ich mich am Beckenrand
hochziehe; es schmerzt ein wenig. Ich trockne mich ab und nehme einen Schluck
aus der Weinflasche, die ich mitgenommen habe, obwohl ich wegen der verschriebenen
Medikamente keinen Alkohol trinken sollte.
Die Waffe ist an sich schon sehr schwer, nachdem ich sie geladen habe, ist sie
schwerer als in meiner Erinnerung. Ich ziele durch das Glasdach auf die sich
heute besonders klar abzeichnenden Sterne und stelle mir vor: abzudrücken,
und den abgegebenen Schuß sofort zurückzunehmen: wie sich die Kugel
wieder in den Lauf zurückwinden würde. Dann setze ich die Waffe an
meine Stirn, male mir aus, wie sich mein Hirn wieder an seinen angestammten
Platz zurückwuchten würde. Ich rolle mich auf dem Liegestuhl zusammen
und entlade dabei die Waffe, lade sie dann erneut.
Die Türe öffnet sich, und ich lasse mich überraschen, was wohl
als nächstes passieren wird.
[kolik ]