Sebastian Kiefer
Was dürfen wir hoffen?
Eine neue Dichtergeneration drängt auf den Markt
Achttausend Exemplare, so wird kolportiert, beträgt die erste Auflage. Keine
Bestsellerdimensionen, gewiß, doch wer den winzigen Markt der Lyrik kennt
– selbst arrivierte Autoren wie Brigitte Oleschinski, Dieter M. Gräf,
Ulf Stolterfoht, Ferdinand Schmatz müssen sich mit einem Zwanzigstel solcher
Auflagen bescheiden – weiß: Achttausend Exemplare einer Anthologie
zu drucken, in der 74 junge (d.h. nach 1965 geborene) Dichter im Bewußtsein
auftreten, eine „neue Generation“ zu bilden, kommt einem Feldzug gleich.
Der DuMont-Verlag ist das Basislager dieses Aufmarsches1, und weil der seit geraumer
Zeit versucht, in Sachen Lyrik marktführend zu werden, wundert es nicht,
daß man die Eigenwerbung auf dem Buchrücken in Strategenmanier verfaßt
hat: „Für die Lebendigkeit der jüngeren und jüngsten deutschsprachigen
Lyrik bedarf es keines Beweises. Zeit hingegen ist es für eine Bestandsaufnahme:
eine neue Generation organisiert sich ihre Öffentlichkeit.“ Will sagen:
Die Leserschaft ist die Knetmasse, die es dem Generationswechsel entsprechend
„zu organisieren“ gilt. Immerhin, einen Vorzug hat die Kampagne –
was jung ist und dichtet derzeit, ist hier nahezu komplett zwischen zwei Decken
versammelt. Sie wollen zeigen, was in ihnen steckt; wir wollen wissen, was wir
hoffen dürfen. Sie wollen bestehen; wir auch. Lassen wir uns also organisieren
von den organisierenden Organisatoren der Marktoffensive.
Die Bestandsaufnahme muß hinten im Buch beginnen. 74 Lebensläufe stehen
dort, akkurat herausgeputzt, als seien es lauter Bewerbungsschreiben für
den Literaturmarkt. Bildet man einen Mittelwert, sieht der Lebenslauf des angehenden
Dichters von heute so aus: Er studiert ein wenig, mal Amerikanistik, mal Ethnologie,
mehr oder weniger zwangsläufig Germanistik und ziemlich oft Philosophie.
Das Seminar ist die Schleuse ins Dichterleben. Was hört ein solcherart geschleuster
werdender Dichter? Hört er etwas von Frege und Wittgenstein, streift er Derridas
Rede von der Unmöglichkeit der Außenseite des Textes, begegnet er der
Rede des allgegenwärtigen Zeichenprozesses mancher Semiotiker? Vielleicht
hört der angehende Musenmensch von Mallarmés Leugnung jeder Außenreferenz
des Gedichtes, sei es via Paul Valéry oder Gottfried Benn. Er wird erfahren,
daß die jahrtausendealte Diskussion, wo die Metapher beginnt und wo sie
endet und ob und wie sie einen Fall von Erkenntnis darstellen kann, mit den explodierenden
linguistischen Disziplinen endgültig labyrinthisch geworden ist. Die Kunde
vom Obsoletwerden des alteuropäischen Ich wird nicht spurlos am werdenden
Dichter vorbeiziehen und, so wollen wir hoffen, auch nicht, daß die Neurophysiologie
dabei ist, die Lieblingsmetapher der Franzosen von der Illusion (oder dem ‚Tod‘)
des Ich aus gänzlich anderen Motiven zu bestätigen. Oder auch, daß
mancher Medientheoretiker ins selbe Horn stößt – Losung: Das
„Ich“ als Schnittpunkt von Codierungen und Simulationstechniken. Oder
sollte das „Ich“ eine grammatische Konvention sein, eine evolutionär
zuträgliche Illusion, eine Erfindung aus moralischen Gründen, wie Donald
Davidson meinte?
Was immer der junge Dichter auf seinen Seminartouren aufschnappt, sicher ist:
Er geht abends nach Hause und vergißt das alles. Denn jetzt dichtet er.
Meistens dichtet er, weil seine Freunde auch dichten und die hinwiederum ihm in
Zeilenform sagen, wie sie gerade drauf sind, was sie gesehen haben und wie es
in der Liebe steht, und weil man sich ja morgen oder übermorgen ohnehin wieder
zum gemeinsamen Vorlesen, Klönen oder Zappen oder Abhotten trifft, in der
„Kalkscheune“ im voll angesagten Bezirk Berlin Mitte, im „Schoko-“
oder „Fischladen“ oder „Bastard Club“. „Organisation“
ist ein Generationsstichwort, fürwahr. „Dichten“ ist wieder ein
Gesellschaftsspiel geworden: „Social-Beat-Netzwerk“ steht irgendwo
in einem beigegebenen Bewerbungschreiben; das ist die Chiffre der Generation.
Insofern kann man ihr „Lebendigkeit“ wahrscheinlich nicht absprechen.
Niemand muß allein sein; jeder kennt jeden, alles ist formiert um vier oder
fünf selbstgemachte Zeitschriften, Karussells der immer gleichen Namen, dicht
bei dicht in Berlin, mit Ablegern in Leipzig („Edit“), Satellitenstationen
in der Kölner „spoken word“-Szene, mit oder ohne Thekenanschluß.
Lyrik als Kommunikation in Netzwerken, daher das neue Gemeinschaftsgefühl:
Hin und her gehen die Variationen des Lebensgefühls; man nennt sie „Lyrik“,
weil man zwar viel auszutauschen hat, aber alles auch schön und kunstvoll
sagen will, man ist schließlich studiert, pocht auf seine ganz individuelle
Art der „Erfahrung“ mit Kulturanspruch – und den hört man
mal den Rauschregistern der Bachmann ab, mal den Wondratschekiaden; mal zelebriert
man konsumfreudig die Oberfläche, mal schwimmt man im neuen Körperbewußtsein,
mal taucht man tief ins Stammeln, das dem Schweigen abgerungen ist; mal ist man
Bob-Dylan-Troubadour, mal Hermet. Stilistische Bastardformen sind jederzeit willkommen,
solange nur das Feeling stimmt. Insofern bildet sich hier wohl tatsächlich
eine Generation: Alle kommen nach irgendwem anderen, aber keiner weiß so
recht, wann die eine Stilimitation in die andere übergeht und was das dann
bedeutet und warum und woher was herkommt.
Nicht, daß der Herausgeber und Patron der Szenerie, Gerhard Falkner, unrecht
hätte mit seiner Behauptung, auf solchen Podien in klingendem Rahmenprogramm
sei Lyrik keine monologische Totgeburt wie sonst im „etablierten“
Betrieb, sondern ein Geben und Nehmen und ein gemeinschaftsbildendes Vergnügen;
im Gegenteil. Nichts könnte wahrer sein. Darin liegt das Problem: Die dichtenden
Leute sind in der Regel keine Dichter von Beruf und Berufung; sie schreiben Gedichte.
Obsessionen sind verpönt, Exzesse unbekannt, Ästhetik unerwünscht,
das Leben ist die Schule der Dichtung; man sorgt sich um sein Examen, sein Doktorstipendium,
seine Lektorstelle, seine Rundfunkaufträge – und schreibt eben Gedichte,
wie man meistens ja auch Songwriter für irgendeine Popgruppe, Werbetexter,
Filmscripter, Covertexter oder Plattenaufleger ist.
Aber: Man ist zwar vor allem hip und groovy und angesagt, doch die Netzwerke und
Thekenrunden sind alles andere als rebellisch, auch wenn man öfters den 68er-Sound
imitiert: Die Nachrücker sind erzbürgerlich wie ihre Lebensläufe
– man will etwas werden in der Welt und verhehlt das nicht. Man will gedruckt
werden, das ist das erste und Wichtigste, und zwar, so weit geht der Spaß
mit den „alternativen“ In-Cafés und angesagten Läden dann
doch nicht, möglichst in einem großen Haus. Und so sind die DJ-Runden
und Underground-Netzwerke derzeit die geschäftstüchtigsten Netzwerke,
um sich gegenseitig zu rezensieren, zu lancieren, anzudichten, Preise zu verschaffen
– und bei Verlagen unterzubringen. Aber in Buchform kommen das Café,
der Szeneladen und der DJ nicht mit. Jetzt müssen die Gedichte sich als Gedichte
behaupten, und das ist das Problem. Man hat zwar irgendwie meistens studiert und
meistens auch etwas mit Sprachen, aber was in den letzten hundert Jahren im Ansturm
epistemischer, psychologischer, neurologischer, linguistischer und historischer
Revolutionen mit der Sprache passiert ist, interessiert einen keineswegs; man
will Sound, keine spätbürgerlichen Sophismen, abgesehen von Verlagen
und Stipendien. So wie es den DJ naturgemäß nicht groß scheren
muß, was am Pariser IRCAM nun wieder über neue physikalische Entdeckungen
zu Teiltonspektren gelehrt wird oder weshalb Dreiklangsharmonik verdächtig
sein soll oder es etwas anderes geben soll als einen Viervierteltakt – der
Sound turnt an oder ab. That’s the way to heaven or hell. Wenn man in dieser
Schule des Lebens dichtet, will man also vor allem ‚sich ausdrücken‘;
man sucht nach schönen Adjektiven, die eine Vorstellung ‚wiedergeben‘;
man gibt ‚sich ganz der Phantasie hin‘ und sucht dann nach dem ‚passenden‘
Wort dafür; manchmal kann man ein Gefühl nur ‚bildlich‘
umschreiben, gibt sich dafür aber bei anderer Gelegenheit alle Mühe,
eine Wahrnehmungssequenz exakt in Worten ‚abzubilden‘; man erinnert
sich an so manches, vor allem an die Zeit, als man klein war; man hat seine „Erfahrung“
mit der Großstadt, ihren Autostradas, Typen und Theken; deshalb schreibt
man. Kurz: Die ganzen „Social-Beat-Netzwerke“ sind eine Flucht vor
Komplexität in eine neue Bequemlichkeit. Die „Jugend“ trägt,
bis sie grau wird, Ohrringe, Tattoos, dreht ihren Tabak selbst, hat kräftige
Slogans auf dem ausgewaschenen T-Shirt, zelebriert Gegenkultur; wenn sie dichtet,
reproduziert sie das Lyrikempfinden des Spießers von damals. Nur das Vokabular
ist ein bißchen aufgemöbelt.
Als naivste Variante in diesem Treibhaus der vorsätzlichen Einfalt stehen,
man wußte es zuvor, die Songwirter- und „spoken word“-Kinkerlitzchen,
Udo Lindenberg für das studierte neue Jahrtausend: „Ich erinner mich
an dich / du warst sexy hinterm glas / unbaendig & devot als ich / bei murat
doener kebap asz“. Oder „Als ich wieder mal auf Kuchen war / in einem
dieser Museumscafés / fragte ich mich …“ Oder auf gut Brinkmannisch,
also mit italienischem Touristikflair und aleatorischen Enjambements: „An
einem späten italienischen Mittag, wie / diesem, wie man ihn kennt, mit viel
/ Pasta pane & parlare, …“ Deutsche Variante: „Wenn ich
Radio höre / wird mein Auto zur zweiten / Wohnung … Der Song läuft
zu /schnell in meinem Kopf …“ „Wir verbringen schon lange /
Zeit / Miteinander reden / Sitzen im Café / oder vögeln …“
Poesiealbum fürs Popcafé, gut und schön, aber warum drucken?
Und was ist daran neu? Mag Brinkmanns Kunstlosigkeit immerhin noch einige Lateinlehrer
provoziert haben, heute ist sie ein universitär geprüfter Markenartikel;
eine charakterlose Maske der Kapitals.
(Auszug)
[kolik ]