Theresia Prammer
„Verdienstvoll“, „sauber“, „kongenial“,
„gelungen“
Zur Armut der Übersetzungskritik
„Si tu savais ce que je jette, tu admirerais ce que je garde.“
Paul Valéry, Cahiers, 1914
Einige wenige tun es, viele glauben, sie könnten es besser, fast alle
glauben, sie dürften es kritisieren: Das literarische Übersetzen ist
nicht nur ein Stiefkind der Literatur, es ist auch ein Stiefkind der Literaturkritik.
Es ist viel Tinte vergossen worden über den angeblichen Unwert, die angebliche
Unzulänglichkeit, Nutzlosigkeit, konstitutionelle Vergeblichkeit von Übersetzungsanstrengungen,
oft gerade von seiten der Übersetzenden: Relativ unerschlossen scheint
jedoch das Gebiet der Übersetzungskritik. Ihr bleibt bis dato trotz eines
Übermaßes an Legitimation die eigentliche „Würde“
versagt, also jene Aufwertung als diskursive Praxis, die auch ein anderes Licht
auf den Übersetzerberuf werfen könnte.
Die herkömmliche, feuilletontaugliche Übersetzungskritik operiert
im Regelfall auf der mikrostrukturellen Ebene, sucht die Übersetzung nach
punktuellen, erfüllten oder verlorengegangenen Entsprechungen ab, exzerpierend,
kommentierend, stichprobenartig vergleichend und abwägend. Sie erschöpft
sich in einer Unzahl von Engführungsexerzitien von Original und Übersetzung,
sie spekuliert über die Erreichung oder Verfehlung von Postulaten inhaltlicher,
formaler (usw.) Äquivalenz, sie ahndet „Abweichungen“, greift
sich die handlichsten Negativbeispiele heraus. Die weitgehend abgeschlossene
und kaum mehr hinterfragte Aufwertung des Sekundärtextes im Zuge poststrukturalistischer
Diskurse hat dieser Lesepraxis erstaunlich wenig Abbruch getan. Der Gestus der
Übersetzungskritik bleibt ein militanter, dispensiert von jeglicher Pflicht
zur Objektivierung. Der Übersetzungskritiker muß sich in der Regel
nicht rechtfertigen; er nimmt in die Mangel, er verpflichtet: auf Kriterien,
die von Mal zu Mal wechseln oder andere Richtungen einschlagen können.
Die Gründe für diese Mißstände sind vielfältig. Zunächst
fehlt für die Betrachtung der literarischen (poetischen) Übersetzung,
so scheint es, ganz einfach das geeignete Vokabular. Daher der florierende,
inflationäre Gebrauch von Worthülsen und Standardfloskeln einerseits
und blühenden Metaphern andererseits. Übersetzung ist immer WIE etwas
anderes, bald gilt sie als anspruchsloses Handwerk, bald als philologisch-kritisches
Nebenprodukt, bald als steckenpferdähnliche Zuverdienstmöglichkeit,
bald wird sie unter „Sekundärliteratur“ subsumiert, bald stillschweigend
für die Zielkultur assimiliert. Ein Assimilieren, das zumeist ein adäquates
Thematisieren verhindert. Moniert wird da die zu große Entfernung „vom
Wortsinn“, dort die zu große Nähe am Original auf Kosten der
Idiomatik, da die Umstellung der Syntax, dort die Entstellung der Bilder: Immer
wieder verwickeln sich ÜbersetzungskritikerInnen in solche Widersprüche.
Man muß wohl mit ihnen leben, denn eine Übersetzung, die es allen
recht macht, ist keine rechte Übersetzung.
In der Tat scheint es nahezu unmöglich, einer Übersetzung gegenüber
neutral zu sein. Daher rührt wohl auch die starke Polarisierung, von der
das Reden über Übersetzung vor allem anderen gekennzeichnet ist: die
Methodenbildung, „Verwissenschaftlichung“ und Dogmatisierung des
Übersetzens auf der einen, die leichtfertige feuilletonistische Verunglimpfung
seiner Resultate auf der anderen Seite. Übt sich die „akademische“
Übersetzungsbetrachtung gerne in abwägender Toleranz, dominiert im
Bereich des Feuilletons, mit signifikanten Ausnahmen, die Leittugend „Demut“
das Feld. Bescheiden und fügsam soll die Übersetzung sein, aber doch
ein „eigenständiges“ literarisches Werk hervorbringen, sie
soll nichts Wichtiges auslassen und sich nicht zu viel herausnehmen, sie soll
sich – verhalten – an das Original halten. Von einem viel wichtigeren
Umstand jedoch, nämlich von der Haltung des Übersetzers, wird meistens
geschwiegen: „Übersetzen ist eine hybride Sache, zu der man gerade
als Autor immer wieder ein positives Verhältnis finden muß. Der Zustand
des Dazwischen – zwischen Einfühlung und Distanz, zwischen Autorschaft
und Nachschrift – will gelernt sein. Hier geht es um mehr als nur um ein
Metier, hier geht es um eine Haltung, um eine Befindlichkeit“1. Eine Befindlichkeit,
die oft überfließt in eine Empfindlichkeit; ÜbersetzerInnen
sind überempfindlich, leicht beleidigt, unleidlich, fühlen sich manchmal
auch zu Unrecht angegriffen. Kein Wunder: „ein übersetzt buch ein
verletzt buch“, liest man im Grimm. Der Übersetzer als Verletzer?
Wie viele Berufsstände gibt es, die mit einer ähnlichen Hypothek belegt
und belastet sind? Zudem macht die Angst vor Sanktionen so manchen Übersetzer
kleinlaut, führt zu einer Tilgung des Ungewöhnlichen, zur unhinterfragten
Bevorzugung des Klang-Schönen vor dem sonderbar Klingenden, zur Ersetzung
(etwaiger) Ungereimtheiten durch Explizierung und Geschwätzigkeit, zu einer
progressiven Glättung des Übersetzungstextes, zu seiner Angleichung
an einen vor-kodifizierten Standard, mitunter zu seiner Ent-literarisierung.
Selbstzensur und Rückzug ins Unverbindliche, innere Emigration sind die
Folge. Was, anders als beim Original-Autor, offensichtlich niemanden stört.
Denn paratextuelle Präsenz gehört gemeinhin nicht zur Qualifikation
des literarischen Übersetzers.
Die heilige Kuh der Übersetzungskritik, die Korrektiv sein will, ist die
Zweisprachigkeit. Die zweisprachige, synoptische Präsentation von Poesie-Übersetzungen
gibt auch noch dem unbedarftesten aller Dilettanten das untrügliche „Beweismaterial“
in die Hand: Da scheint alles augenfällig, alles nachprüfbar zu sein,
der Text der Übersetzung kann direkt „kontrolliert“ und dem
Vergleich mit dem Original unterzogen werden. Jeder tut es: Die Versuchung ist
einfach zu groß. Wer der Fremdsprache unkundig ist, zieht das Original
heran, um sein Vokabelwissen zu überprüfen oder seinen Wortschatz
aufzumöbeln. Wer die Fremdsprache nur ein wenig kennt, wird die Chance
nützen, um dieses Wenige posaunend an den Mann zu bringen. Die Übersetzer
aus dem Englischen sind am meisten zu bedauern. Hier steigt die Zahl der Zwangsbeglückungen
mit Besser-Lösungen und Patentrezepten geradezu inflationär. Doch
eine poetische Übersetzung ist eben kein unterstützendes Sprachlehrwerk;
sie dient nicht dem Spracherwerb, sondern, neben der nicht zu vernachlässigenden
Funktion der Vermittlung, auch der Sprachbewegung, der Sprachveränderung.
Und sie ist – wenn sie es ist – ein für sich stehender und
für sich bestehender Text. Indes, das regierende Übersetzungsverständnis
ist immer noch eines, das in der Übersetzung bestenfalls ein paraphrasierendes
Pendant, ein temporäres Substitut, einen mickrigen Ableger sieht, und das
sich zwar mokiert über sogenannte „Schnitzer“, doch nichts
auszusetzen findet an rein explikativen Texten, die wie ein schmückendes
Beiwerk um die Original-Gedichte herum drapiert sind: papieren und seelenlos.
So führen die Übersetzer, dem jahrhundertealten Topos nach, das Dasein
von Dienern zweier Herrn, deren Existenz nur dann bemerkt wird, wenn sie ihre
Aufgabe nicht erfüllen: wenn „gepatzt“ wird. Sie lassen sprechen
und sie haben dabei, als Moderatoren, moderat zu sein; sie vermitteln, aber
sie stehen nicht im Mittelpunkt, sondern in der Regel einfach nur dazwischen.
Und sie gelten, wenn sie nicht Paul Celan oder Ingeborg Bachmann heißen,
grundsätzlich als „umstritten“.
Der sprachliche Umgang mit Übersetzungen und ihren Verfassern ist sehr
bezeichnend und wenig facettenreich. So wird die Übersetzung, die vor lauter
„Flüssigkeit“ auf das Original vergißt, gerne als elegant
bezeichnet. Während das Original-Werk „geschaffen“ wird, wird
die Übersetzung (übrigens auch die kritische Ausgabe) im besten Falle
gemacht, meistens aber besorgt oder erledigt. Es war aber auch schon von Übersetzung
als Beeinträchtigung oder Beschädigung2 des Originals die Rede: als
lästiges Übel letztlich, dem, in Zeiten des Internet, durchaus Abhilfe
geschaffen werden kann.
Und auch die Adjektive, die zum Beschreiben von Übersetzungsleistungen
herangezogen werden, sprechen für sich. Wird eine Übersetzung z.B.
mit dem Attribut solide versehen, so soll damit meistens die Redlichkeit der
Absichten des Übersetzenden lobend herausgestrichen werden: Denn die solide
Übersetzung ist die ihren Zweck erfüllende Übersetzung, es ist
die gelungene Auftragsübersetzung. Die solide Übersetzung steht nicht
auf wackeligen Beinen, sie ist sattelfest und handwerklich gut gearbeitet, sie
schwankt nicht, sie bringt keine Sicherheiten ins Wanken. Wer sie zuwege bringt,
dem wird zumeist ein ausreichendes Maß an philologischem Hintergrundwissen
zuerkannt. Die solide Übersetzung vollführt keine Wunder oder Kunststücke,
sie ist nicht mit den Weihen der „Autoren“-Übersetzung gesegnet,
sie gilt als achtbar und nachmachbar. Gerne werden Übersetzungen aus DDR-Zeiten
als solide bezeichnet: Da hat sich einer rigoros Mühe gegeben, da wird
man nicht betrogen, da bekommt man es schwarz auf weiß, da weiß
man, was man hat.
Wer die Übertragung lobend erwähnen will, ohne sich im Detail mit
ihr befassen zu müssen, der wählt das Attribut verdienstvoll: wie
ein langjähriger Beamter oder tapferer Krieger ist dann die Übersetzung:
sie hat sich bewährt und kann sich getrost zur Ruhe setzen. Gerne wird
von der Übersetzung auch als sauber gesprochen: wie ein Schulaufsatz, eine
Reinschrift, eine Schönschrift gar, behutsam und gewissenhaft. Wenn der
„geniale“ Schriftsteller auf den „genialen“ Übersetzer
trifft, kommt es, kraft eines Prozesses, den man nur als alchimistisch bezeichnen
kann, zu kongenialen Übersetzungen. Als gut und gelungen wird zumeist die
Übersetzung tituliert, die allem Anschein nach ein „Original“
ist. Das ist, im wahrsten Sinne des Wortes, blinde Bewunderung, ist ansteckend
und entwaffnend zugleich, aber es ist nicht Übersetzungskritik.
Je vollkommener die Ausblendung der Übersetzung als Übersetzung, desto
überschwenglicher mitunter das Lob des „Original“-Autors. „Wo
gibt es in Deutschland, in Österreich eine Frau, die so eine Prosa schreibt?“
ereifert sich Marcel Reich-Ranicky im „Literarischen Quartett“ –
und vergißt, daß diese Prosa eine übersetzte Prosa ist, daß
also eine Deutsche, eine Deutschsprachige sie geschrieben haben muß. „Es
ist neu übersetzt worden, und so schön, und sauber“ heißt
es in einem anderen „Literarischen Quartett“ (15. 12. 00) über
ein anderes Buch, auch dies ein wohlmeinender Kommentar, der in dieselbe Kerbe
wie das, mindestens ebenso häufige, tadellos schlägt3: Den Übersetzenden
als reinen Ausführenden wird insbesondere die Reinheit der Ausführung
abverlangt. Es sind die Kriterien, die generell der Hausfrau zuteil werden,
die sich hier auf die Übersetzung übertragen haben. Sorgfältig
und ordentlich wie der Haus-Halt sollten Übersetzungen sein, gewissenhaft,
wie die Haus-Frau der Übersetzer, die Übersetzerin. Die Hausfrauen,
ja überhaupt Frauen-Analogie läßt sich bis in die Modi der Wahrnehmung
hinein verlängern: Übersetzungen werden nicht studiert, sondern taxiert,
nicht kritisiert, sondern ausstaliert. Übersetzungen werden begutachtet
(und manchmal für gut erachtet), sie werden, wenn sie Glück haben,
als achtbar eingestuft (vielleicht ob ihrer philologischen Absicherung). Sie
werden (allzu oft) verachtet, mitunter regelrecht abgeschlachtet. Sie sind für
einen leichten Witz ebenso gut wie für eine flüchtige, aufmunternde
oder abschätzige Bemerkung. Korrektheit und hübsche Aufmachung bringen
Pluspunkte, Ausrutscher und Schlampigkeiten dürfen nicht passieren. Im
doppelten Wortsinn – denn manche Kritiker gebärden sich wie Zollpersonal,
das die ein oder andere Schmuggelware schon einmal „durchgehen“
läßt. Nicht Deklariertes wird zurückgeschickt.
Bald sind die Urteile überschwenglich und emphatisch, bald hämisch
und vernichtend, bald salbungsvoll, bald gönnerhaft-nachsichtig: Kaum einmal
sind sie „angemessen“ – ein Maß, das doch an Übersetzungen
so gerne angelegt wird. Gerne wird joviales Lob angeschlagen: recht gut, heißt
es dann, ordentlich, beachtlich, im Großen und Ganzen gelungen oder bis
auf einige Schnitzer passabel, korrekt. Es ist die Rede vom Übersetzungsfehler
oder vom übersetzerischen Totalausfall und manchmal, im Guten, von einer
Übersetzung, die sich bewährt, von einem bewährten Übersetzer.
Der Maßstab, der hier waltet, scheint der Autor (Text) zu sein, an dem
der Übersetzer sich bewährt. Woran aber bewährt sich der Autor?
An der Dichtung? An der Sprache? An der Welt? Am großen Ganzen?
(Auszug)
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