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Erna Holleis


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I.
Ich glaube, daß im Wohnzimmer eines Hauses das Licht eingeschaltet wird, "aufgedreht". Heimelige Ausdrücke. Habe ich die Dorfleute gern?
Die hell gewordenen Glühlampen im Haus sind die Scheinwerfer eines sich nähernden Autos gewesen. Das könnte erfrischen, würden zwei Monate von diesem Spaziergang abgezogen. Vor dieser Zeit lebte die alte Wirtin noch. Damals war das Wirtshaus ab und zu eins neben Glockenblumen und Waldschatten. Jetzt sind unsere Augen müde geworden, der Wirt und ich zählen das Geld wie auf den Boden gefallenes Haar. Mein Zurücktreten vor den eigenen Schritten, Freudentaumeln unmöglich.
Vor acht Monaten, oder waren es sieben, bin ich mit meinem jungen Liebhaber aus Universität und Stadt aus-, in dieses Dorf zwischen zwei Wäldern eingebrochen, als Wirtin aufgegangen, die die alte Wirtin, eine Bekannte meiner Mutter, gern pflegte. Die alte Wirtin streichelte mein Haar, jede Woche, monatelang. Ich überwand meine Schüchternheit und bat die Wirtin, sie solle das öfter machen, es sei durchblutend für beide. Und die alte Wirtin tat es, bis sie starb. Nie wußte ich so deutlich, daß mit diesem Zeitpunkt eine Krise begann. Ich hatte mich oft gefragt, wann eine Krise beginne, damals war es eindeutig. Der Eisenhut und die Dahlien auf dem Grab der Wirtin sagten es mir so faßlich, daß ich am liebsten Rosen ausgerissen hätte. Das Grab herausreißen in einem nächtlichen Traum. Die alte Wirtin hielte wieder mein Gesicht in den Händen - und spräche: Ich hatte auch so blaue Augen, meine waren noch schöner, mit Grün bedeckt; hätten wir mehr Glück, gingen wir als junge Mädchen gemeinsam in die Schule. Ich schreibe in letzter Zeit Sätze auf, die die Wirtin damals sagte. Ich setze meist keine Anführungszeichen, die Erinnerungen flackern zu sehr.

Gestern wachte ich auf und wunderte mich, denn es war, als hätte ich heftig geweint; die wenigen Tränen bewiesen nichts.
Einmal, damals, fiel mir ein großes Käsestück in eine Tomatensoße. Ein Gast: "Das ist schlimm." Die Wirtin, die neben mir hantierte: "Gar nicht." Ich schrieb alles auf, setzte Anführungszeichen.
Am Grab der Wirtin möchte ich deren Photos aus der Jugendzeit betrachten, aber Gegenwart und Dorf machen mich zu einer feigen Frau. Gestern tat ich es zu Hause, als mein Liebhaber im Schafstall Pimpschl und Pempschl streichelte. Ich saß so lange, bis er mich überraschte. Er sagte, auch er tue sich schwer, sich ohne die Wirtin einzurichten. Mutter und Schwester zugleich, ohne etwas von der Rüge von Müttern und der Bosheit von Schwestern zu haben. Trotz ihrer Schweigsamkeit und ihres Kränkelns hätte er ihre Augen, die Lehne für seine Blicke, geliebt. Obwohl wir von ihr als der "alten Wirtin" oder "der Wirtin" gesprochen hätten - und sie noch so nennen -, hätten wir sie auch wie eine Tochter erlebt. Mich störte, daß er "wir" sagte. Vielleicht war es so, wie er sagte, doch ich schrieb die Sätze, die er gesagt hatte, nicht auf. Ich hörte sie nur ungefähr.
Nein, für mich war die Wirtin Mutti und Wärst du doch an meinem Ohr. Ich brachte ihr Zeitungen, Photos, alles, was sie sich wünschte. Ich fuhr mit ihr in die Wälder, jede Woche. - Fuhr ich so oft mit ihr in die Wälder? Nur manchmal. Wieso übertreiben die Erinnerungen wieder zu meinen Gunsten?
Obwohl es mich drängt, will ich nicht daran denken, daß ich in den Augen der alten Wirtin eines Nachmittags etwas Künstliches gesehen habe, einen strahlenden Himmel ohne Zierde einer Wolke, etwas Verlogenes, das mich heute noch blendet und gleichzeitig Nüchterheit in chronische Traurigkeit bringt. Nur Haß auf die Wirtin diente damals: kühlende Wolke.
Die Wirtin konnte nie lang allein sein. War sie zu lange allein, hatte sie verweinte Augen.

"Versailles ist der schönste Garten der Welt."
"Du blondes Gift."
"In der Demokratie der Alten waren es kluge Männer, die alles regelten."
"Der Sonnenkönig war ein gewaltiger Mensch."
Die Wirtin verwendete solche Sätze meist am Sonntag.
All diese zum Teil spaßigen Sätze aus der weiten Welt, in der die Wirtin nie gewesen, treiben sich durch meinen Kopf. Vielleicht als Ablenkung von der Wirtin.
Versailles ist für viele nicht einmal ein halbes Paradies, für viele gibt es kein Besitzdenken, kein blondes Gift und keine Demokratie, in der ein Geschlecht für zwei bestimmt.
Am meisten störte mich, wenn die Wirtin von ihrem toten Mann als ihrer "besseren Hälfte" sprach. Ich will bestimmte Sätze nicht holen. Was ist ein Infarkt? Ein Herz, das für plötzlich Häßliche schlägt? Der Tod der Wirtin lenkt mich auf andere Personen mit vor- und nachgekauten Sätzen. Aufgrund ihrer mageren Bildung entschuldige ich die Wirtin. Ich spaziere auf einer oberösterreichischen Landstraße, auf dem Weg zu meinem Mazda. Warum lasse ich meine Schritte zu? Messer, die mein Herz in unappetitliche Stücke schneiden. Haben Füße blaue Stellen?
Erbrechen meiner Lieblingsspeisen. Verzicht auf Schokoladeeis, während der geliebte Pudel, der mir Schwester und Freund war, im Sterben lag. Das Erbrechen von Lieblingsspeisen war bereits eine Idee Gottes in meiner frühen Kindheit, die ich aber nicht haßte, weil ich Einzelkind war. Fünf Gänge. Das Klo verdaut. Das Kreuz hing im Klassenzimmer. Das Sticken, das ich noch satter hatte als die so oft rücksichtslos scheltende Handarbeitslehrerin, überstand ich nur, weil ich dachte und wachte, ich sticke und stricke ein Leichentuch für die Handarbeitslehrerin. Je genauer es gearbeitet, desto früher muß die Handarbeitslehrerin sterben, sonst verstaubt das Leichentuch. Ich war so sehr darin vertieft, daß ich in einer Handarbeitsstunde auffuhr. Die Handarbeitslehrerin mußte schon eine Weile vor mir stehen. "Warum grinst du so läppisch?" - Erschrocken bemerkte ich zum erstenmal ihren nicht gerade kleinen Gesichtserker, eigentlich hatte sie ein schönes Gesicht. Es fiel mir auf, daß ich die Handarbeitslehrerin zum erstenmal richtig anzusehen wagte. Mußte oder wagte? "Lächle, lächle ich?" Ich erinnere mich an genau diese Wörter.
"Du siehst aus, als wolltest du deiner Mutter heute noch Böses tun." Ich würde jetzt, als Erwachsene, die Handarbeitslehrerin bald schriftlich zitieren, sogar mit Anführungszeichen, obwohl sicher nicht jedes Wort stimmt. Grinste sie? Mir kommt es so vor. Ich erschrak beim Wort "Böses"; trotzdem mußte ich hoffentlich grinsen. "Nein, meiner Mutter doch nicht." Die Handarbeitslehrerin sagte zu mir, ich müsse wegen meiner "Unaufmerksamkeit" zwei Knopflöcher nähen. - Die Verzierung für das Leichentuch mußte noch gemacht werden!
Ich konnte die Fragen einiger meiner Mitschülerinnen, warum ich bestraft worden sei, nicht beantworten. Nicht, weil ich keine Antwort wußte, ich wußte mehrere, sondern, weil ich nicht reden wollte über diese Form des Ekels. "Schert euch zur Handarbeitslehrerin!"
Denke ich an irgendeinen Ekel aus meiner Kindheit, um gegenwärtigere Witterungen nicht aufnehmen zu müssen? Meine Augen sind vom Dunst des Gasthauses gerötet, ich will nicht, daß der Wirt und Exstudent mich auf der Ansichtskarte dieser Welt kauern sieht. (Auszug)

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