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Thomas Rothschild

Literatur und Erkenntnis

Zur Kritik der Hochschulpolitik

Die an deutschsprachigen Hochschulen zu beobachtende Ablösung der Literaturwissenschaft durch eine unterschiedlich bestimmte Kulturwissenschaft hat ihre Ursachen, wie andere Gründungen von Lehrstühlen und Studiengängen auch, in Moden, in Legitimationsproblemen und nicht zuletzt im ausgeprägten Willen von Nachwuchswissenschaftlern, sich durch die Etablierung neuer Disziplinen eine Professur zu sichern. Die Legitimationsprobleme, die man auch als Legitimationszwänge erfahren kann, rühren aus der schwindenden Bedeutung von Literatur und Lesen in der Gesellschaft. Was einst zum Kernbestand der Schulpläne gehörte, der Erwerb von Kenntnissen der Literaturgeschichte, bis hin zum Auswendiglernen von Gedichten, ist der allgemeinen Reflexion über das Leben gewichen. Was früher Besinnungsaufsatz hieß, ist heute eine mehr oder weniger von den Massenmedien geprägte Form des populärphilosophischen Plauderns. Literatur kommt nur noch am Rande vor. Germanistikstudenten, die in der Schule niemals einen Text von Kleist, Brecht oder Horváth, geschweige denn von Hebel, Grabbe, Robert Walser, Anna Seghers oder Christa Wolf gelesen haben, die kein Werk aus der Antike, kein einziges Stück von Shakespeare oder Molière, kein Gedicht von Baudelaire, T. S. Eliot oder Ingeborg Bachmann, aber auch keinen Film kennen, der vor 1995 gedreht wurde, sind eher die Regel als die Ausnahme. Wer als Dozent heute ein Autorenseminar anbietet, muss damit rechnen, dass die Studenten in der ersten Sitzung noch mit keiner Zeile dieses Autors vertraut sind. Auf diese Entwicklung reagiert der durchaus ernst gemeinte Vorschlag, die philologischen Disziplinen als so genannte Orchideenfächer zu betrachten, wie es die Sinologie oder die Ägyptologie in unserem Kulturkreis immer schon waren, und die Zulassungszahlen radikal zu beschränken.
Man muss sich freilich fragen, ob die Probleme der Literaturwissenschaft nur Folgen oder nicht auch Ursachen ihrer schwindenden Bedeutung sind. Wenn diese Disziplin und die ihr zugrunde liegende Existenzberechtigung aus Gründen, die nicht in ihr selbst ruhen, in Misskredit gebracht werden, dann erzeugt das naturgemäß Probleme.
Im speziellen Fall der Ersetzung der Literaturwissenschaft durch eine Kulturwissenschaft kommt gegenüber anderen Etablierungen von Studiengängen ein zusätzliches, wirkungsvolles Motiv hinzu: der Wunsch, jedenfalls aber die Bereitschaft, sich den Interessen der Wirtschaft gefügig zu machen. Was nicht unmittelbar in Produktion und also in Profit überführbar ist, soll nach und nach aus Forschung und Lehre entfernt werden. Dass das zum Wohle der Gesellschaft im Allgemeinen und der Studierenden im Besonderen sei, ist Ideologie im Marx’schen Sinne des „falschen Bewusstseins“. Den Entscheidungsträgern in der Wirtschaft und ihren Erfüllungsgehilfen in der Politik ist es, wie nie vorher in der Geschichte, gelungen, ihre Interessen im öffentlichen Bewusstsein als die allgemeinen Interessen zu verankern und mit ihnen jenen Bereich zu usurpieren, der nach einem Verfassungsgrundsatz frei zu sein hätte: den Bereich von Forschung und Lehre.
Dietrich Harth hat schon vor einem Jahrzehnt, in einem 1996 erschienenen Aufsatz anlässlich der Beobachtung, dass „das geistesgeschichtliche, im deutschen Wissenschaftsbetrieb verwaltete Nebengebäude der Literaturwissenschaften in Auflösung begriffen ist“1, die entscheidenden Punkte zusammengefasst:
„Der Effizienzdruck der politischen Instanzen, der Verfall eines einst gesicherten Objektbereichs (Kanon) und die Tatsache, daß beruflich nur noch 3 % der Magisterabsolventen philologischer Disziplinen im Bildungssektor unterkommen, sind – um nur einige Ursachen zu erwähnen – der Grund dafür, daß die verschämte Frage ‚Wozu Literaturwissenschaft?‘ unverdrossen dauernd neu aufgelegt wird. Bildung, einst mit einer ,Kultur‘ identisch, die ins offene Meer der Selbstbestimmung münden sollte, liegt in Akademiens Landschaften in einem ausgetrockneten Bett. Der Fluß ist umgelenkt worden: in Kanäle speziellen Kompetenzerwerbs, zwischen denen es kaum Verbindungen gibt. So scheint es denn an der Zeit, ohne falsche Pietät gegenüber konventionellen Wertstandards neue Perspektiven, Ausbildungsziele und Berufsstudiengänge zu entwickeln, die ‚Kultur‘ – in der Vergangenheit meist nur in der engen Bedeutung von Literatur und Künsten verstanden – nicht mehr als etwas Selbstverständliches hinnehmen oder mit Bildung verwechseln. Aufs Äquivalent von Bildung reduziert, verströmt ‚Kultur‘ heute etwas Altväterlich-Bürokratisches und fristet ein öffentlich subventioniertes Scheinleben. Als Äquivalent des Marktes indes ist sie längst Stoff für eine gigantische Unterhaltungsindustrie, auf die sich – unter dem Schlagwort ‚Praxisorientierung‘ – langsam aber sicher die Zielvorstellungen der Studienreformer einpendeln.“2
Harths ebenso witzige wie zutreffende Diagnose lässt freilich unterschiedliche Schlussfolgerungen zu. In der Praxis durchgesetzt hat sich die Reaktion der erwähnten „politischen Instanzen“. Seit Harth seine Überlegungen veröffentlicht hat, wurde im europäischen Rahmen beschlossen, die Magisterabschlüsse durch Bachelor- und Masterabschlüsse zu ersetzen, was freilich die Chancen, im Bildungssektor unterzukommen, um keinen Deut verbessert hat. Dem Verfall des „einst gesicherten Objektbereichs“ begegnet man mit ausufernden Kanonvorschlägen, deren Anbiederung an die Bedürfnisse der Massenmedien aber für die Literaturwissenschaft eher ein Hindernis als eine Hilfe darstellt und jedenfalls die Frage nach dem Zweck der Literaturwissenschaft keiner Antwort näher bringt. Und dass sich die Auffassung von „Kultur“ als Äquivalent des Marktes in den vergangenen zehn Jahren mit Nachdruck durchgesetzt hat, lässt sich unter anderem an den landauf, landab angebotenen Studiengängen für „Kulturmanagement“ ablesen, die Buchhaltung und Werbung entschieden wichtiger nehmen als Literatur- und Kunstgeschichte.
Zwar beteuern die Befürworter einer „kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft“, die man wohl als Vorstufe oder Teildisziplin einer reinen Kulturwissenschaft begreifen muss, diese stünde zu einer textorientierten Literaturwissenschaft nicht in grundsätzlichem Widerspruch. Schaut man aber genauer hin, ist der Sinn des angestrebten und längst eingeleiteten Paradigmenwechsels deutlich zu erkennen. So erklärt Britta Hermann unumwunden, von einer „Kulturwissenschaft im Singular“ erhoffe man sich für die Studierenden „bessere Arbeitsmarktchancen, Praktika schaffen dabei wichtige Kontakte und verknüpfen die Wissenschaft mit dem späteren Berufsleben“. Diese Studiengänge, so verkündet sie, „zielen auf Berufsfelder im Kulturmanagement und in der Öffentlichkeitsarbeit“.3 Von der Befähigung zur kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten, für die Öffentlichkeitsarbeit zu leisten wäre, ist keine Rede. Wenn die Russischen Formalisten danach fragten, wie der „Don Quijote“ oder wie Gogols „Mantel“ gemacht ist, wenn Peter Szondi untersuchte, was das Drama seit Ibsen vom vorausgehenden Drama unterscheidet, wenn Karl Pestalozzi herausbekommen wollte, wie das lyrische Ich entstanden ist, wenn Jurij M. Lotman über die Struktur des künstlerischen Textes nachdachte, dann waren die Ergebnisse solcher Forschung nicht unmittelbar für den Markt zu gebrauchen. Kulturmanagement aber dient ausschließlich der Umsetzung kultureller Produkte zu und ihrem Absatz als Ware. Wer Kulturmanagement als sein Studienziel anpeilt, verschreibt sich dem herrschenden System und hat mit Betriebswirtschaftslehre mehr zu tun als mit Literaturwissenschaft.

(Ausschnitt)

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