Edith Ottinger
Kleine Psychologie des Endes
Auszüge
Ich war dreizehn Jahre, acht Monate, vierzehn Tage und fünf Stunden alt,
ziemlich genau fünf Stunden, ich besaß einen Schlüssel, der
passte nicht mehr ins Schloss, am Morgen passte er noch in dieses Schloss, nun
passte er nicht mehr. Seither habe ich mich oft, mit einem Schlüssel in
der Hand, vor einem Schloss, bei dem Versuch, aufzusperren – immer zu
Hause, immer mit dem sichern Wissen, dass ich den richtigen Schlüssel für
mein Schloss habe, dass ich im Besitz des Schlüssels bin, das kalte Metall
in den Händen, zuvor mühsam aus zu engen Hosentaschen hervorgezogen,
von einem Bein aufs andere hüpfend, nervös –, ein bisschen angeschifft.
Es ist mir oft nicht gelungen, aufzusperren, ohne dass der warme Urin an meinen
Oberschenkeln nach unten lief.
Als ich dreizehn war, habe ich mich nicht angeschifft, ich stellte fest, dass
sich etwas verändert hatte, das erste äußerliche Merkmal der
Veränderung war mir sofort ins Auge gestochen, war mir nicht entgangen,
der Schlüssel lag in meiner Hand und mein Blick glitt nach unten, zum Schlüsselloch,
und das Schloss glänzte. Es glänzte, wie es sonst nicht geglänzt
hatte, es funkelte geradezu, es funkelte mich an, andere Buchstaben standen
darauf. Nicht mehr die vertraute Erscheinung. Trotzdem, ich war zwar irritiert,
musste es aber für eine Täuschung halten, versuchte ich, den Schlüssel,
den ich besaß, der meine Garantie für den Einlass in meine Wohnung
war, die elterliche Wohnung, hier war ich zu Hause, hier besaß ich einen
Schlüssel, den einzigen, den ich besaß, ins Schloss zu stecken, lediglich
um festzustellen, dass er nicht eindringen konnte in die Öffnung, dass
es sich um ein Schloss handelte, das nicht zu meinem Schlüssel passte.
Am Morgen passte der Schlüssel noch, ich konnte absperren, ich konnte mich
genau erinnern. Nun war aber klar, dass ich an der richtigen Türe stand,
mein Nachname stand auf dem Schild, ich befand mich im ersten Stock, alles wie
immer, und ich wusste, es gibt Probleme, schon seit einiger Zeit gibt es Probleme,
und oft, wenn die Mutter abends wegging, nicht lange, nur kurz, zu einer Besprechung,
bis etwa 22 Uhr, bat sie mich, mich und den Bruder, wach zu bleiben, damit wir
ihr die Türe öffnen könnten, wenn er sie aussperren würde,
wenn er einfach seinen Schlüssel innen stecken lassen würde, sie von
außen mit ihrem Schlüssel nicht ins Schloss könnte. Ich habe
mich auch so geschützt vor ungewollten Eindringlingen, die einen Schlüssel
zu meiner Türe gehabt haben und die es darauf angelegt haben, mir mit meinem
Schlüssel zu schaden. Das funktioniert!
Mein Schlüssel passte nicht ins Schloss, am Morgen passte er noch, ich
stand an der richtigen Türe, aber jetzt passte mein Schlüssel nicht
mehr ins Schloss, also gab es Probleme, die konnten allerschlimmster Natur sein,
das wusste ich, wirklich allerschlimmster Natur, aber es könnte auch sein,
dass sie nichts mit mir zu tun hatten, diese Probleme. Wer auch immer hinter
dem Schloss war, mir das Schlüsselrecht entzog, er würde mich nicht
aussperren, jemand musste auf der anderen Seite des Schlosses sein, und dieser
eine hatte Interesse daran, dass ich zu ihm komme, auf seine Seite, dass ich
mit ihm irgendetwas Gemeinsames mache, eine gemeinsame Sache, vielleicht, dass
ich zu ihm gehen will, vielleicht hatte es damit zu tun, wer zu wem geht, und
ich sollte zu ihm gehen, weil er da drinnen in der Wohnung ist, mein Kinderzimmer
ist auch in der Wohnung. Wer da dahinter war, wenn jemand dahinter war, der
würde mir öffnen, beide würden mir öffnen. Es war klar,
hier vor der Türe war niemand außer mir, ich konnte nicht alleine
vor der Türe gelassen werden, also musste jemand hinter der Türe sein.
Also war es nur logisc,h zu läuten.
Auf das Läuten kam keine Reaktion. Die Reaktion blieb aus, allerdings nur
hinter der Türe, vor der Türe, auf meiner Seite, breitete sich eine
eigenartige, zähe und boshafte, ätzende Suppe aus, die mir die Hände
zittrig machte. Ich blickte auf meine Hände.
Zittrig.
So kann man nicht aufsperren. Natürlich ist das alles eine Gemeinheit,
natürlich werde ich wieder die Einzige sein, die das nicht weiß,
das mit dem Schloss, und es wird meine eigene Schuld sein, ich werde nicht aufgepasst
haben, es ist eine Gemeinheit, dass mir niemand richtig gesagt hat, dass das
Schloss ausgetauscht wird, und hoffentlich ist es das, hoffentlich ist es das,
dass ich nicht aufgepasst habe. Dann wird mich jemand schimpfen oder auslachen,
das wäre alles. Oder sie werden mich auslachen, weil ich es nicht geschafft
habe, aufzusperren.
Es ist was! Da ist was! Irgendwas ist!
Ganz ruhig, okay, cool, ganz cool, den Schlüssel einfach noch einmal zum
Schloss führen, mit einer möglichst ruhigen Hand, ganz ruhig, einfach
aufsperren, aber auch ganz ruhig!
Geht nicht.
Drinnen haben sie mich nicht gehört.
Läuten.
Noch einmal läuten, lange und ausgiebig läuten.
Läuuuuuuuuuuuuuuuuuuten!
Nichts!
Gut, ähm, durch den Spion schauen, von außen nach innen, einen hellen
Fleck sehen, der sich bewegt, und zu schreien beginnen, Mama schreien, und dann
gegen die Türe klopfen, zuerst zaghaft mit dem Zeigefingerknochen der rechten
Hand gegen die Türe klopfen, vielleicht hört mich aber keiner, und
dann mit den Fäusten, trommeln, gegen die Türe trommeln, Mama schreien,
Papa schreien, jetzt auch schon weinen, brüllen, aufzusperren versuchen,
durch den Spion schauen, sich auf den Fußabstreifer knien, weinen und
mit den Fäusten trommeln in einem Stiegenhaus, sich schämen wegen
der Nachbarn, weil sie mich so hören, weil sie mich so sehen, weil die
schauen auch durch die Spione, immer schauen die durch die Spione heraus.
Ich bin dreizehn und mein Schlüssel passt nicht mehr ins Schloss und ich
weiß, das heißt nichts Gutes, und ich weiß, das ist allen
egal, das ist meine Geschichte, niemand will etwas davon wissen, man schaut
nur durch den Spion, weil es im Stiegenhaus laut ist, wer ist das, fragt man
sich, aber mehr will man nicht wissen, das ist ganz allein meine Geschichte,
und niemand soll das wissen, es soll niemand wissen, so etwas sollen die anderen
gar nicht wissen, also schön ruhig.
Ich gehe hinaus, wische mein Gesicht ab und höre meine Mutter schimpfen,
weil ich so ein Theater gemacht habe, weil ich das ganze Haus zusammengeschrien
habe. Habe ich ja gar nicht, nur die Spione.
Ich muss mich gut abwischen, damit man nichts merkt, dann, wenn ich mich abgewischt
und beruhigt habe, dann gehe ich. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll,
ich weiß überhaupt nichts, nur dass mein Schlüssel nicht ins
Schloss passt, dass da etwas nicht stimmt, dass es Probleme gibt und dass ich
zu meiner Mutter muss, ich muss meine Mutter suchen, irgendwo muss sie sein,
in der Wohnung rührt sich niemand, und ich glaube nicht, dass mir niemand
aufmacht, wenn wer da wäre, also ist die Mutter woanders. Ich weiß
nicht, wohin ich gehen soll. Ich habe kein Geld zum Telefonieren.
Ich gehe zuerst zum Nachbarhaus, aus unserem Haus hinaus, die Straße zurück
zum Einfamilienhaus nach hinten, ganz das letzte in der Straße, und dort
läute ich an, die Mama von meiner Schulkollegin macht auf und sagt, dass
meine Mama nicht da ist und dass sie sie auch nicht gesehen hat, ach so, sage
ich und: danke, und dann gehe ich wieder. Es gibt nur mehr eine Möglichkeit,
das andere Haus, die Freundin von der Mama, die muss was wissen, also gehe ich
wieder zurück, gehe in das Haus davor, ganz nach oben. Es ist jemand zu
Hause. Ich sage etwas, etwas von meiner Mutter und von dem neuen Schloss, dass
ich nicht reinkann und niemand aufmacht. Ich zittere wieder ein wenig, meine
Stimme zittert auch und die Freundin meiner Mutter lässt mich in ihre Wohnung.
Dort bleibe ich, weil mich die Freundin von der Mama nicht mehr weglässt,
aber ich muss meine Mama suchen, und ich sage der Freundin von meiner Mama alle
Namen von allen Leuten, die angerufen werden können, damit wir wissen,
ob die Mama dort ist, aber die wissen alle nichts, und dann muss ich Wache stehen
am Balkon von der Freundin von der Mama, weil ja dann mein Bruder kommt, und
den muss ich rufen, vom Balkon aus, dass er es nicht probieren soll, dass er
gleich rüberkommen soll, dass er nicht fragen soll, nur rüberkommen.
So war das, und ich glaube, mein Bruder hat sich nie angeschifft vor seiner
Türe, ich schon, ich habe mich dann öfter angeschifft, ich bin ganz
gelassen auf die Haustüre zugegangen und bin jedes Mal erleichtert gewesen,
dass es diesmal nicht kommt, dass ich schon am Klo gewesen bin, bevor ich heimgefahren
bin, und ich habe meinen Schlüssel gezückt, und dann habe ich es schon
gespürt, dann bin ich ganz hektisch geworden und habe versucht, den Schlüssel
ins Schloss zu bekommen, und habe gezappelt und die Oberschenkel aneinander
gepresst und bin ein wenig in die Hocke gegangen. Bis ich oben an meiner Wohnungstüre
gewesen bin, ist mir schon der Urin über die Oberschenkel gelaufen. Mein
Bruder weiß das nicht, er weiß auch nicht, was ich ihm erspart habe,
weil ich ihn abgepasst habe, was ihm bevorgestanden wäre, wenn ich nicht
auf dem Balkon gestanden wäre und auf ihn gewartet hätte, um ihn zu
rufen. Dabei hätte es ihm vielleicht gar nichts ausgemacht, weil er einen
männlichen Blasenschließmuskel hat und der besser arbeitet.
(Ausschnitt)
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