Alfred Kolleritsch
Hinterherlaufende Zukunft
Es waren ausgepreßte Zimmer,
von den Wohnungen weggegrenzt,
mit kleinen Öfen und Kohlenstaub,
Wasserkannen und Lavoirs.
Dort war unser Frieden,
nach dem Krieg,
angehängtes Überleben.
Es erschien ringsum,
es erhielt sich
das Böse:
das was galt,
das Übriggebliebene, das Wesen,
Zeitloses schlich durch den Türspalt.
Frauenbeharrlichkeit, Vermieterwahn
beschenkte sich selbst mit Abhängigen.
Wir verkrochen uns, schwiegen, geduckt,
zur Wiederverwendung.
Aufgeblasene Präservative schwebten
hinter den Büchern, listig,
sie verlängerten die Lust,
reine Anschauung.
Kalte Wintertage schickten Eis
in die Zimmer,
Wasserkrüge zersprangen,
und viele sagten:
"Ich liebe die Qual,
sie ist die Erfüllung,
festgekrallt, die Dankbarkeit":
stolz zu sein auf nichts,
unberührt vom überlieferten Glück.
Wir wollten sein,
begierig sein, es zu sein,
frech gegen die Hoffnung,
für den Augenblick,
für die Zerstörung der ganzen Zeit,
die Zerstörung versprach den Unterschied,
die Einsamkeit, den jungen Schimmel.
Wenn das Feuer aufflackerte
in den Öfen, tanzte der Widerschein,
riß die Erstarrung auf,
den Protest der Muskeln
und das aufgeschlagene Bett
nahmen die Wärme an.
Auf den Büchern war Staub,
Staub auf den Grammatiken
des Gotischen, Althochdeutschen,
Mittelhochdeutschen, der ver-
gleichenden Sprachwissenschaft,
der Logische Aufbau der Welt,
lag unter Sein und Zeit,
Benn widerlegte den Tractatus,
das Dichterwort ersetzte die Welt,
erhellte sich in tausend Gestalten.
Daß geschwiegen werde,
verbat sie sich.
In der Fremde,
bei den Lehrern:
den sich selbst Bewahrenden,
nagten wir blicklos
an herausgerissenen Stücken,
am Toten, am Nacheinander,
lasen die Briefe Innozenz III,
Regesten der Herzöge von Tirol,
Sueton, Seneca, schrieben über
den Senatsbeschluß
de jure honoris gallis dando,
über die Vogteien von Kremsmünster,
Mommsens Münzlehrer schürte den Haß,
und es gab fast ein wenig Liebe,
wenn wir den Parzival lasen,
über Sigunde und Schionatulander.
Bewegt von den Blutstropfen im Schnee
versanken wir in Rilke und Botticelli,
entschlüpften mit dem werdenden Gott
den Richtenden und nahmen
als Strafe das Modale bei Franz Suarez
auf uns und das Kettengewirr der Logistik.
Im Abseits des Offiziellen, legte sich einer
selber dar, lehrte sich selbst,
in Schritten dachte er, sich als System
hinauf zu Gott und zwang uns
zu antworten, daß er der erste sei
auf diesem Weg, wie man uns nötigte
zu wissen, was früher geschrieben worden sei,
Erek oder Iwein, Schande des Datierens,
wer abhinge von wem. Entmachtungen,
grausame Ketten, daß keiner denken dürfe
ohne den anderen, Ursachenwahn,
verantwortungslose Verdrehung der Schuld.
Hochmut und Leere. Keine anlockende Selbstkritik
begegnete uns in den Fakultäten,
in den Angstträumen gedieh die Willkür
nach unten, das Beliebige
mit Strenge verschleiert. Schamloses,
Täter der Kriegsjahre ringsum, Vor-
bereiter seit langem, Bodenboten
erdrosselten das Ungefragte, besetzten
die Gegenwart, gleichgeblieben
auf dem Bewahrungsgalgen.
Es waren Jahre entzogener Zukunft.
Wir wechselten mitunter die Zimmer.
Die Zeit seither riß
nur Ränder ein. Viele sind tot,
wenige reingewaschen, tot
und gleichgeblieben, so fast lebendiger.
Zimmerknechte der Geschichte waren wir,
in unser Absterben hinein: Erinnerungsspender,
Wiederholer, voll Scham, das meiste
so zu sagen, was wir anders nicht
sagen konnten, triefender,
nicht wegzuschiebender Inhalt,
bedeutungsverkrüppelt,
aber mit fruchtbarer Wut, ja,
für die Rettung des Weggangs,
des Augenblicks, nur wartend,
daß sich a n d e r e s öffnet,
ein Lichtstrahl ins Blätterfallen.
So wurden wir schlaff vom Schauen,
hatten römische Münzen daheim
und Fundstücke vom Limes,
Wandblumen aus dem Schutt Aquileias,
terra sigilata, Öllampen aus Ton.
Sie leuchteten heller aus der Erde,
als die Augen der Lehrer einst
mit der Maske der Exaktheit
und dem Monokel Wissenschaft.
Die uns hineinzwangen,
sie prüften uns für ihr Überleben,
mit dem sie den Schatten verkauften,
aus ihrer Herkunft kommend,
als kämen sie aus dem Kino.
Aber verdecken wir unsere Schuld
nicht mit der ihren? Es ist jetzt warm
in den Zimmern.
[kolik ]