Marlene Streeruwitz
"Echos und Masken"*
Ich zitiere Elfriede Jelinek aus "Sinn egal. Körper zwecklose.":
"Die Zeugen meiner Anklage gegen Gott und Goethe, mein Land, die Zeitungen
und die Zeit solo, sind die jeweiligen Figuren, jedoch ohne sie darzustellen
und ohne sie sein zu wollen, weil sie ja schon sind! Also nicht im Sinn einer
platten Identifikation mit einem Etwas, sondern im Sinn eines Sinns von etwas!"
"Nein!" rief die liebe Wahltante aus Salzburg, als ich mit ihr telefonierte
und ihr erzählte, ich käme nach Salzburg, ihr den Grund nannte und
fragte, wann ich sie besuchen könnte. "Nein! Die Jelinek! Du mußt
verstehen. Ich habe von der nichts gelesen. Aber ich kann diese Frau nicht ausstehen.
Wirklich. Ich mag sie nicht."
Was ist da geschehen. Was liegt da vor, daß eine außerordentlich
gebildete, besonnene Person derart in Emotion ausbricht und ohne Hemmung pauschale
Urteile einer anderen Person anheftet, von der sie nichts weiß. Sie hat
nichts von der Autorin Jelinek gelesen. Und eine Bekanntschaft mit der Person
Elfriede liegt nicht vor. Was also löst diese heftige Ablehnung aus?
Ein Urteil. Eine Bewertung kann nur über Bekanntes, Gewußtes getroffen
werden. Es müssen aber. Und das täglich. Es müssen Bewertungen
und Urteile über Phänomene und Ereignisse gefällt werden, von
denen nur Spärliches bekannt ist. Über die kaum etwas gewußt
werden kann. Und. Wir bekommen diese spärlichen Informationen über
Medien, die von der Verkaufshilfe leben. Deren Inserateneinnahmen oder Werbeeinschaltungen
die inhaltlichen Teile dieser Medien sponsern. Der Inhalt muß also für
die Verkaufshilfe attraktiv sein. Der bloße Bericht reicht dazu nicht.
Der Bericht muß einen verführerischen Blickwinkel erhalten. Und ein
Bild. Human touch zieht da am besten. Für die Literatur heißt das,
die Autoren und Autorinnen werden vor ihr Werk gezerrt. Statt der einläßigen
Rezension der Literatur werden die Urheber und Urheberinnen beschrieben. So
privat wie möglich. Und das Bild des Autors und der Autorin beginnt für
das Werk zu stehen. Das Bild beginnt für die Person selbst zu stehen. Das
Bild wird das Werk und die Person.
Dieser Vorgang läuft im Rahmen des Zusammenrinnens von Information auf
emotional geladene Kürzel ab. Auf Symbole. Gefühlsaufgeladene Informationsbomben
werden den zu Informierenden implantiert. Wie Tretminen ruhen sie am Grund des
Gedächtnisses. Das Nennen des Symbols oder eines das Symbol betreffenden
Reizsignals lassen die Mine explodieren. Die darin gelagerten Gefühle detonieren.
Ressentiments. Vorurteile. Sentimentalität. Nostalgisches. Liebe oder Haß.
Diese Emotionen steigen auf. Ein kurzes Feuerwerk. Sinken dann wieder in sich
zusammen. Diese Sprengkörper sind implantiert und ewig wiederverwendbar.
Kehren nach der Explosion an ihren Ort zurück. Bis zur nächsten Entladung.
Dieser Vorgang hat viele Gründe. Alte und neue. Neu ist der endgültige
Fall der Welt ins Geld. Alt bleibt alles darin, daß in der Idee des Geldes
der Eine Gott simuliert wird. Im Geld, das nur es selbst wert ist, und das in
der abstraktesten Form, seit die Golddeckung des Geldes aufgegeben worden ist.
Das Geld kann seine eigene Vermehrung in Zins und Zinseszins aus sich selbst
schöpfen. Für dieses Wachstum benötigt das Geld nur die Zeit.
Raum und Energie sind überflüssig geworden. Es genügt, das Wachstum
in Nullen zu dokumentieren und damit die Idee des Geldes zu beschreiben. Diese
Idee hat sich in vollkommener Entsachlichung von den Erfindern, den Menschen,
emanzipiert und wirkt nach eigenen, die Natur hinter sich lassenden Regeln.
Für alle Formen des Ausdrucks werden die überkommenen Strukturen verwendet.
Und der Logik dieser Rückkehr des Monotheismus folgend, geschieht der Griff
nach den Mitteln der Vormoderne immer öfter. Der Ruf nach Werten gehört
in diesen Bereich. Bedeutet Rückwendung.
Für unsere Kultur heißt das alles, daß unsere Welt katholisch
geblieben ist. Unsere Erziehung vor allem. In der Nachstellung der Dominanz
Gottes über den Menschen in allen Ordnungen von Gesellschaftlichem werden
in den Hierarchien die Begriffe oben und unten und die einen und die anderen
konserviert. Und so lange einer oder eine unten ist. Also Kind. Etwa. Oder Schülerin.
Lehrling. Student. Studentin. Arbeitsloser und Arbeitslose. So lange wird das
Oben ausgeübt, das dann wiederum von denen unten erreicht werden muß,
um eine Lebensberechtigung zu verdienen. Wir leben in einer Kultur, in der die
Lebensberechtigung erworben werden muß. Immer und immer wieder. Die Welt
ist uns nicht zugewiesen. Wenigstens. Oder sie gehörte uns. Nein. Die Welt
ist Ort des Paradieserwerbs. Durchgangsstadium. Ewiger Schauplatz des Verlusts.
Ewige Landschaft des Gehorsams. Und kein gutes Wort.
Wer immer beschimpft wird, lernt nichts anderes. Kann ja nicht.
Ich zitiere aus Elias Canetti "Masse und Macht":
"Es ist geraten, von einem Phänomen auszugehen, das allen vertraut
ist, der Freude am Aburteilen. 'Ein schlechtes Buch' sagt jemand, oder 'ein
schlechtes Bild', und er gibt sich den Anschein, als habe er etwas Sachliches
zu sagen. Immerhin verrät seine Miene dabei, daß er es gerne sagt.
Denn die Form der Äußerung täuscht, und sie geht sehr bald in
eine persönliche über. "Ein schlechter Dichter" oder ein
"schlechter Maler" heißt es dann gleich, und es klingt, als
sage man "ein schlechter Mensch". Überall hat man Gelegenheit,
Bekannte, Unbekannte, sich selbst beim Prozeß des Aburteilens zu ertappen.
Die Freude am negativen Urteil ist immer unverkennbar.
Es ist eine harte und grausame Freude, die sich durch nichts beirren läßt.
Das Urteil ist nur ein Urteil, wenn es mit etwas unheimlicher Sicherheit abgegeben
wird. Es kennt keine Milde, wie es keine Vorsicht kennt. Es wird rasch gefunden;
es ist seinem Wesen am meisten gemäß, wenn es ohne Überlegung
zustande kommt. Die Leidenschaft, die es verrät, hängt an seiner Raschheit.
Das bedingungslose und das rasche Urteil sind es, die sich als Lust auf den
Zügen des Urteilenden malen.
Worin besteht diese Lust? Man schiebt etwas von sich weg, in eine Gruppe des
Geringeren, wobei vorausgesetzt ist, daß man selbst zu einer Gruppe des
Besseren gehört. Man erhöht sich, indem man das andere erniedrigt.
Der Bestand von zweierlei, das entgegengesetzte Werte vertritt, wird als natürlich
und notwendig angenommen. Was immer das Gute ist, es ist da, damit es sich vom
Schlechten abhebt. Man selber bestimmt, was zum einen und was zum anderen gehört."
(Auszug)
[kolik ]