Ulrike Schmitzer
Brandelik
In der Früh strömten alle Frauen in der Siedlung aus ihren Einfamilienhäusern und
liefen im Laufschritt Richtung Fabrik. Im Sommer zogen sie ihre dünnen Strickjacken
quer über dem Bauch zusammen, um sich vor dem kalten Frühtau zu schützen.
Nur bei Schnürlregen waren die Jacken offen, weil die Jackenhand zur Regenschirmhand
umfunktioniert werden musste. Die zweite Hand hielt wie immer
die Zigarette.
Der Brandelik war eine kleine Fabrik mitten im Ort, gleich daneben stand das
einzige Haus mit Swimmingpool im Garten. Wir schlichen uns manchmal über die
hoch gewachsene Wiese an, um einen Blick über die Hecke zu werfen. Einen Blick
in unsere Zukunft, wie wir damals glaubten. Manchmal gelang es uns auch, nah
genug an die hohen Fabrikfenster zu kommen, um die riesigen Ballen mit bunten
Wollfäden zu sehen.
In der Fabrik wurden Strickjacken gefertigt. Zu einer Zeit, als noch jede junge
Frau einen Strickpullover und darüber eine gleichfarbige Strickweste trug, war das
ein Bombengeschäft. Die Strickmaschinen standen nicht mehr still. Tag und Nacht
wurden Strickensembles gefertigt, Tag und Nacht liefen die Frauen aus dem Ort im
Laufschritt in die Fabrik.
Die Strickensembles wurden in gut gehenden Geschäften in der Innenstadt
verkauft. Jedes Ensemble wurde in durchsichtigen Plastiksäcken in die Regale gesteckt
und nur auf Anfrage der Kunden hervorgeholt. Der feine Zwirn sollte nicht
beschädigt werden. Nicht auszudenken, wenn Motten in das Geschäft gekommen
wären. Neue Ensembles wurden vorsichtig befühlt, davor mussten allerdings die
Finger symbolisch am Rock abgewischt werden. Die neuesten Farben wurden mit
anerkennendem Nicken goutiert. Die Strickwaren aus dem Ort waren weithin bekannt.
Dass sie aus unserem Ort kamen, wusste aber niemand, deshalb wurden
wir auch nie berühmt. Ich könnte jetzt vielleicht erzählen, dass man von der Fabrik
aus einen tollen Blick auf Schloss Goldenstein hat und dass dort Romy Schneider
zur Schule ging. Berühmt wurde der Ort aber auch deswegen nicht.
Doch die beste Zeit des Ortes war ohnehin bald vorbei: Es geschah nämlich
etwas, womit keiner gerechnet hatte. Die Mode veränderte sich, die Strickensembles
eigneten sich bald nur noch als Weihnachtsgeschenke für Großmütter. Ihr sollt
doch nicht, so ein teures Geschenk, sagten die Omas dann. Die bunten Ensembles
wurden von den Großmüttern wieder in die Plastikfolie gesteckt und ganz hinten
im Kasten aufbewahrt. So ein Material bekommt man heute gar nicht mehr, sagten
sie.
Die Frauen im Ort liefen in den Morgenstunden etwas langsamer als früher
Richtung Brandelik, bis sie überhaupt nicht mehr in die Fabrik gingen und dann
wieder im Laufschritt ihren Enkelkindern auf dem Fahrrad hinterherliefen und
schrien, ich halte dich! Die Serbinnen liefen ihren Salzburger Enkelkindern nach.
Die Arbeiterinnen vom Berg liefen ihren Enkeln mit den viel zu großen Bauernschädeln
nach und die Katholikinnen liefen in die Kirche, weil der Messbesuch
gilt, wenn man vor der Wandlung da ist. Irgendwie hörten sie alle nie auf zu laufen.
Der Brandelik war übrigens ein kleiner alter Mann, der alle im Ort freundlich
grüßte. Er sah gar nicht wie ein Fabrikant aus. Meist trug er eine Strickjacke und
Patschen, wenn er ein paar Schritte vor der Fabrik auf- und abmarschierte.
[kolik ]