Bernhard Strobel
Die Hornissen
Sie saß am Esstisch mit einem Glas Wasser, es war dunkel, nur in der Küche brannte
das indirekte Licht aus der Halogenleuchte über der Arbeitsplatte. Sie saß still,
lauschte, ob von oben etwas zu hören war. Sie dachte: Bestimmt ist er aufgewacht
und kommt herunter. Sie wollte nicht, dass er herunterkäme. Sie dachte: Er hat es
gehört, er hat das Geräusch gehört und kommt herunter. In ihr drinnen war alles
schwarz. Sie versuchte, sich den Verbreitungsweg des Knalls bis nach oben ins
Schlafzimmer vorzustellen, die Wirkung des plötzlichen Lärms über den leeren
Treppenaufgang bis durch die geschlossene Tür, das Abdämpfen durch Teppich,
Decken und Pölster. Wenn er fragt, dachte sie, werde ich sagen, dass ich mit der Flasche
gegen die Anrichte gestoßen bin, dass sie mir fast aus der Hand gefallen wäre,
als ich sie aus dem Kühlschrank geholt habe. Wenige Augenblicke später hörte sie
das Knarren des Bettes, danach Schritte, sie hörte das Knacken seiner Zehen und das
sorgsam gedämpfte Auftreffen seiner Fersen auf dem Parkett. Einmal hielten die
Schritte an, sie vermutete, dass er vor der Tür zum Kinderzimmer stehen blieb, um
zu sehen, ob der Junge aufgewacht war. Dann ging er weiter.
Sie wandte sich nicht zu ihm. Erst als er neben ihr vor dem Tisch stand, blickte
sie zu ihm hoch. Sie lächelte. Sie merkte, dass es unecht wirkte, zumindest fühlte
es sich unecht an; es musste an den Augen liegen, sie spielten das Spiel nicht mehr
mit. Er setzte sich neben sie, nachdem er langsam und behutsam den Stuhl unter
der Tischplatte hervorgehoben hatte. Sie wollte nichts sagen. Sie wusste, dass es
unsinnig war, da sie früher oder später doch reden würden, aber aus irgendeinem
Grund hätte sie es als Niederlage empfunden, wenn sie es gewesen wäre, die zuerst
etwas sagte.
„Hier bist du also“, sagte er.
Sie sagte: „Ich bin aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen.“
„Was war das für ein Geräusch?“, fragte er.
„Ach das“, sagte sie. „Das war nur die Flasche. Ich bin unabsichtlich damit
gegen die Anrichte gestoßen.“
„Die Flasche?“, fragte er.
„Ist der Junge aufgewacht?“, fragte sie.
Er blickte sie an, dann sagte er:
„Glaub nicht. Ich habe die Musik gehört, als ich an seinem Zimmer vorbeigekommen
bin.“
„Dann schläft er“, sagte sie.
„Ja“, sagte er.
Sie sagte: „Sonst hätte er sie ausgemacht. Wenn er aufgewacht wäre, hätte er
sie ausgemacht.“
„Ich weiß“, sagte er.
„Er schläft immer mit Musik“, sagte sie.
„Ich weiß!“, sagte er.
Seine Stimme war laut, lauter, als er es selbst beabsichtigt hatte, sie merkte, dass
er merkte, dass er zu laut geworden war. Sie dachte: Er ahnt etwas. Es ist meine eigene
Schuld, ich hätte nicht so viel über den Jungen reden sollen, das hat mich verraten.
Und das Geräusch. Sie dachte: Gleich wird er fragen, was mit mir los ist. Und
schon fragte er:
„Ist irgendwas?“
Sie hätte ihn anschreien mögen für diese Einfallslosigkeit. Aber sie würde
nichts sagen. Sie dachte: Es ist nichts. Ich werde sagen, es ist nichts, dass ich nur
schlecht geträumt habe. Deshalb braucht er sich nicht aufzuregen, er weiß, dass ich
Albträume habe, dass ich oft von hässlichen Dingen träume. Doch als ihr Blick auf
die hintere Terrassentür fiel, gingen die Gefühle mit ihr durch und sie fing zu
schluchzen an, nicht laut, es fühlte sich an, als ob ihr die Luft wegbliebe. Dann
sagte sie:
„Er stellt sich vor, wir wären tot.“
Sie sah die Ahnungslosigkeit in seinen Augen, ein dunkler Schein in den Schatten
unter den Brauen, die ihr in dem fahlen Licht in ihrem Rücken vorkamen wie
die Augenhöhlen eines Totenschädels.
Sie sagte: „Die zwei Hornissen. Die zwei toten Hornissen draußen vor der Terrassentür.
Hast du die gesehen? Es war kein Zufall, dass die dort gelegen sind.“
„Was meinst du?“, sagte er.
„Er war es. Er hat sie dort hingelegt.“
„Ja“, sagte er, „aber was meinst du?“
Sie sagte: „Das waren wir.“
„Wir? Aber die sterben ja immer wieder mal, wenn sie abends bei der Außenleuchte
herumschwirren. Dann krabbeln sie unter die Verkleidung, verbrennen
sich die Flügel und fallen herunter, und dann sterben sie, hier auf dem
Fensterbrett.“
„Aber nicht so.“
„Wie so?“
„So, wie sie gelegen sind“, sagte sie, „nebeneinander. Die eine mit dem Rücken
am Bauch der anderen. So fallen die nicht herunter. Ich weiß, dass er es war.
Er hat sie so arrangiert, sie sozusagen gebettet.“
Er sagte: „Das kannst du nicht wissen.“
„Aber ich weiß es.“
Er sagte: „Nein, das kannst du nicht wissen.“
„Ich weiß es, weil ich ihn kenne. Und weil ich mich kenne. Er ist wie ich.
Deshalb weiß ich es. Und weil mein erster Gedanke war, dass es schön war. Das
habe ich gedacht: dass es schön ist. Hast du gesehen, wie sie dort gelegen sind? So
friedlich, als ob sie zusammengehörten, und vielleicht gehörten sie ja zusammen,
und ich habe gedacht: So muss man sterben. Und in dem Augenblick hätte ich
nichts dagegen gehabt, zu sterben, es wäre mir gleichgültig gewesen. Solange es
nur genauso friedlich und schön hätte sein können. Da habe ich gewusst, dass er
es war. Und ich war stolz. Ja, stolz, weil ich eine Verbindung zu ihm gespürt habe,
weil ich gemerkt habe, dass er ist wie ich, dass wir vom selben Schlag sind. Aber
jetzt“, sagte sie, „jetzt macht es mir Angst.“
„Bist du deshalb aufgewacht?“, fragte er.
Sie sagte: „Ja.“
Sie griff nach dem Glas, trank langsam und platzierte es mit beinahe übertriebener
Vorsicht in der Mitte des Tisches auf einem kleinen runden Tuch, das dort
lag. Sie sahen einander an, lange. Sie konnte erkennen, dass er etwas sagen wollte,
dass irgendetwas in seinen Augen lag, aber sie wusste nicht, was es war. Dann war
es weg. Sie dachte: Er kennt ihn nicht, wie ich ihn kenne. Er hat keine Ahnung,
wie es in uns aussieht. Vielleicht war es das, was sie gesehen hatte. Dann fragte er:
„Und wenn es ein Traum war?“
„Ich habe nicht geträumt“, sagte sie.
„Bist du sicher?“
„Ich habe nicht geträumt“, sagte sie lauter. „Mir ist bloß erst jetzt klar geworden,
was es bedeutet. Zuerst habe ich nicht daran gedacht, aber dann ist mir
plötzlich aufgegangen, dass wir das waren. Es war sein Spiel. Er hat gespielt, dass
wir tot sind, dass Mama und Papa tot sind. Kannst du dir vorstellen, wie er dort gesessen
ist, wie er leise mit sich selbst geredet hat, so wie er es manchmal tut, wenn
er mit seinen Figuren spielt, nur dass diese Figuren uns darstellten, dich und mich.
Und dann hat er uns nebeneinandergelegt, du warst die größere der beiden Hornissen,
und dich hat er rechts hingelegt, auf deine Seite, und mich daneben.“
Er nickte, dann fragte er:
„Warum hast du mich nicht geweckt?“
„Was?“, sagte sie.
„Du hättest mich wecken können.“
„Warum hätte ich dich wecken sollen?“
„Warum?“ sagte er. „Weil man das tut. Ganz einfach, weil man das tut. Wenn
man Angst hat, dann weckt man den Menschen, der neben einem im Bett liegt, und
dann spricht man darüber.“
„Aber wir sprechen ja darüber.“
Er schüttelte den Kopf.
Sie sagte: „Und dann schüttelst du den Kopf.“
Er seufzte und stand auf, laut, es stand in klarem Gegensatz zu der Vorsicht, mit
der er zuvor den Stuhl unter dem Tisch hervoroperiert hatte. Er lehnte sich an die
Kühlschranktür. Sie dachte: Gleich geht es los. Aber es ging nicht los. Sie dachte:
Wenn er den Jungen aufweckt, gehe ich, dann ist es aus. Aber es ging nicht los.
Stattdessen fragte er:
„Wovor hast du Angst?“
Sie sagte: „Ich weiß nicht.“
„Aber du hast gesagt, dass es dir Angst macht.“
Sie sagte: „Ja.“
„Hast du gesehen, dass er es war?“
„Nein“, sagte sie.
„Aber die Hornissen, die hast du gesehen?“
„Ja“, sagte sie.
Er wollte noch mehr sagen, sie merkte es an seinen Mundwinkeln, aber er
sagte es nicht. Sie versuchte sich vorzustellen, was in seinem Kopf vorging, doch
das brauchte sie nicht, denn im nächsten Moment schien er eine Eingebung zu
haben, schaltete das Außenlicht ein und ging nach hinten zur letzten Terrassentür.
Sie sah, wie er sich hinunterbeugte und die Hände an die Glasscheibe legte. Eine
Minute, vielleicht weniger, blieb er so hocken, dann kehrte er zurück an den Tisch.
Er sagte nichts. Sie dachte: Warum sagt er nichts? Erneut sah sie den Ausdruck in
seinen Augen.
„Du hättest mich wecken sollen“, sagte er.
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