Susanne Mi-Son Quester
Versuch mit F
1
Ich liege auf dem Bett und versuche, mich zu erinnern. Wie es aussah, wie es sich
angefühlt hat. Da war diese Straße, eng, die Mauer an der Seite hoch, aus den Häusern
Geräusche, fast zu jeder Tageszeit. Die Straßenlaterne, deren orangenes Licht
durch die Videokamera immer rot aussah. Da waren die Leute, die ich eigentlich
fast nie gesehen habe. Und da war ich, die ich für die anderen immer fremd gewesen
bin.
Ich komme zurück nach einer langen Zeit ganz weit weg. Ich kenne die anderen,
und die anderen kennen mich. Aber das stimmt alles gar nicht.
So was Abweisendes in allen Stimmen hören. Alles so hart, nicht gleichgültig, sondern
wirklich hart. Vor allem die Männer.
Die Mimik, die Intonation, die Stimmen sind anders. Natürlich die Sprache, aber
nicht, daß sie Deutsch sprechen, sondern daß sie ein anderes Deutsch sprechen
als ich. Oder daß sie über anderes sprechen?
Über die Prüfung. Über das Laminat. Über die Rechnung.
Bei den Frauen ist es die Kleidung: die tiefen Ausschnitte, die engen Sachen, auch
wenn sie dick sind. Die, die nicht dick sind, sind fast noch unheimlicher. Fühlen
sie sich schön?
Mit den Münzen auf dem Tisch spielen.
Die ganzen großen Bewegungen, die großen Körper. Als würde die Welt ihnen gehören.
Aber nicht souverän, als gehörte sie tatsächlich ihnen, sondern als kämpften
sie permanent darum. Sie haben nicht kapiert, daß die Orte ihnen nie gehören
werden.
Es ist heiß, aber ungewohnt, trocken, unbarmherzig. Oder kalt, richtig kalt, daß
man sich gleich wieder Handschuhe anziehen möchte. Das Essen ist mir fremd. Die
Zigaretten, der Schlaf, alles ist anders. Ich habe gedacht, daß ich nach Hause kommen
würde, ich habe gar nicht damit gerechnet, daß es anders sein könnte. Was
ich spüre, ist, daß die anderen mich anders sehen, als ich mich fühle. Und ich will
nicht sein, wie sie mich sehen. Ich mag die nicht, die sie in mir sehen.
Sich selbst im Spiegel nicht wiedererkennen, weil ich den anderen viel ähnlicher
sehe, als ich mich fühle. Spiegel im Kaufhaus: Anprobe. Schaufenster. Irgendwie
spiegelt man sich überall. Die eigenen Bauchschmerzen als Fremdsein im eigenen
Körper empfinden.
* * *
Ich habe F wiedergesehen. Eigentlich hatte ich gedacht, daß die Sache mit F durch
die Entfernung nach und nach und von alleine ausplätschern würde. Dafür ist sie
aber von Anfang an zu kompliziert gewesen.
F ist schön geworden, schön fand ich ihn ja schon immer, aber jetzt schick, sauber,
ordentlich. Wir fahren mit dem Auto. An einer Ampel greift er mir ins Haar.
Erst bei der übernächsten Ampel, als es an mir ist, zurückzugreifen, zögere ich und
gebe der Berührung Bedeutung. Es ist alles unecht. Wie mit den Exfreunden: Man
glaubt es nicht mehr. Ist F ein „Exfreund“?
Wir gehen in ein Gasthaus, ich bestelle mir auf seine Empfehlung ein saures Lüngerl.
Ich habe keine Ahnung, was das ist, aber es schmeckt okay, ein bißchen zu intensiv,
aber nicht unangenehm. Das Gespräch geht von links nach rechts nach links,
erst hab ich das Gefühl, mich rotziger zu verhalten, als angemessen wäre, mich ihm
zu verschließen. Dann wird F unruhig und unkonzentriert, mein Verhalten spielt
keine Rolle mehr, er nimmt es nicht wahr.
Er möchte rausgehen, wir gehen raus.
Es regnet.
F trägt in seiner grünen Umhängetasche einen orangenen Regenschirm.
Mir ist schlecht.
F sieht mich an und sagt: Dir geht es schlecht.
Mir geht es wirklich schlecht. Die Haut am ganzen Körper beginnt zu jucken, eine
Art Fieber, Kopfschmerzen. Ich weiß, daß ich etwas gegessen habe, was ich nicht
hätte essen sollen, und daß das jetzt mindestens 2 Stunden dauern wird, das Nesselfieber,
der allergische Schock, was auch immer es nun eigentlich ist.
Zunächst muß ich auf die Toilette.
Auf dem Weg dorthin wird mir schwarz vor Augen, ich verliere alle Kraft und nach
nur wenigen Metern breche ich mich übergebend zusammen. Richtig am Boden.
Richtig zusammengebrochen und das Erbrochene vor mir.
F organisiert alles, was es in dieser Situation zu organisieren gibt: Taschentuch, Toilette,
Taxi, er macht das souverän und trotzdem nicht so, als wär ihm das schon tausendmal
zuvor passiert.
Ich stehe unter allergischem Schock und kotze ein weiteres Waschbecken voll.
Dann lege ich mich erschöpft-verschwitzt auf den Boden: Kacheln, wie lang habe
ich nicht mehr auf so kalten Kacheln gelegen.
Mit dem Krankenhauspförtner spricht er von „seiner Freundin“. Als ich auf der
Bahre liege, ist er plötzlich verschwunden.
Erzähl mir eine Geschichte, eine Gangstergeschichte!
Ein Mann schützte immer Kopfschmerzen vor, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter
zu bekommen, die ihn in diesem Fall pflegte. Später bekam er wirklich immer
Kopfschmerzen. Ein anderer verbrühte sich bei einem Zugüberfall am Lokomotivendampf
das Gesicht. Einer wurde anhand fremder Fingerabdrücke auf einer Zigarettenschachtel
identifiziert.
Wir beobachten den Blutdruckmesser, mein Blutdruck ist niedrig, 47 zu 100,
wenn ich die Luft anhalte, schaffe ich 42. Nicht mit der Gesundheit spielen!, ruft
F.
* * *
Alle Schwierigkeiten mit F kenne ich, sie sind auch nicht besonders kompliziert.
Es ist eigentlich wie immer, nur schlimmer.
Während der drei Tage, die er in der Stadt ist, drückt er sich vor Begegnungen,
und wenn wir uns doch sehen, vor jedem Gespräch, das uns betreffen könnte. An
seinem letzten Arbeitstag will er gleich abfahren, ich soll ihn aber noch zum Bahnhof
begleiten.
Ich inszeniere eine kleine Szene in einem dunklen Gang:
Ich würde gern mit dir reden, aber ich habe das Gefühl, daß du das gar nicht willst.
Ach komm, hör auf, das ist doch Quatsch.
Auf der U-Bahn-Treppe das ganze Theater mit Handfassen -wegziehen, Handfassen.
Ich will ihm klarmachen, daß ich gar nichts von ihm will außer endlich mal
wissen, was das eigentlich ist zwischen uns.
Du tust immer so, als würde ich dich unter Druck setzen, dabei will ich überhaupt
nichts von dir, was du mir nicht geben willst.
Leise: Aber freiwillig gibst du mir auch nichts –
Ach komm, hör auf mit dem Quatsch.
Ich frage ihn, was er sich eigentlich vorgestellt habe, es ist ihm unangenehm, ich
quäle ihn, er drückt sich, er wisse es doch auch nicht, und irgendwann, schon auf
der Treppe vom Bahnhof, an dem wir aussteigen, er habe sich gedacht, daß ich
nach Berlin ziehe und wir uns vielleicht gemeinsam eine Wohnung nehmen.
Ich lache.
Na ja, das hab ich mir halt vorgestellt.
Ab dann geht es nur noch darum, wie er rechtzeitig zum Schlüssel, zur Wohnung,
zur Schlüsselrückgabe, zum Bahnhof kommt. Dabei schleppt er diesen riesenhaften
grünen Plastikkoffer mit sich herum. Ich biete ihm an, mit dem Koffer auf ihn
zu warten, während er den Schlüssel holt.
Würdest du das machen?
Sonst würde ich es dir ja nicht anbieten.
* * *
Ich sitze auf dem grünen Plastikkoffer im U-Bahn-Geschoß. Drum herum laufen
die Leute.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, mit F in einer Wohnung zu leben. Ich assoziiere
Blaubart, La Belle et la Bête und House of Wax, einen Horrorfilm, von dem ich
nur das Plakat gesehen habe.
Ich überlege, ob in dem Koffer eine Bombe ist, deren Auslöser F oben in Sicherheit
drückt. Ich setze mich neben den Koffer und versuche, in meinem Buch zu
lesen.....(Auszug)
[kolik ]