Antonio Fian
Großvater
„Der Großvater muss zum Friseur. Übernimmst du das?“, sagte meine Mutter und
schob in mein Zimmer im Elternhaus in S., wo ich zu Besuch war und, auf dem
Bett liegend, in einem Buch las, einen Buggy, in dem, auf Größe und Gewicht eines
Kleinkinds geschrumpft, mein Großvater saß. Er musste weit über hundert Jahre alt
sein, ich hatte lang nichts von ihm gehört und ihn daher für tot gehalten. Seine
Haut war faltig, zahnlos der Mund, aus dem Speichel rann, ansonsten aber schien
er bei guter Gesundheit. Ständig den Kopf zwischen mir und meiner Mutter hinund
herbewegend, mit wachen Augen verfolgte er die Szene, musterte mich skeptisch,
als misstraue er dieser ihm unbekannten Person, der er da anvertraut wurde.
Sein Haar war weiß und dicht, wie eine Perücke, auch schien es mir keineswegs unordentlich
oder störend lang. Dennoch gab ich, weil ich keine Unannehmlichkeiten
wollte, der Bitte meiner Mutter nach und fragte nur, zu welchem Friseur ich mit
ihm gehen solle, denn es habe sich, sagte ich, in S. sicher einiges verändert, seit ich
mir hier zum letzten Mal die Haare hätte schneiden lassen.
„Zum Guger natürlich“, sagte meine Mutter, „der Großvater ist Stammkunde
beim Guger, man muss ihn dort nur abgeben und eine halbe Stunde später wieder
abholen.“ „Und wo ist der Friseur Guger?“, fragte ich, denn ich hatte den Namen
noch nie gehört, und meine Mutter rief verärgert: „Ich bitte dich! Du wirst doch
den Guger kennen, den Guger beim Bahnhof, du bist ja selbst früher zu keinem anderen
Friseur gegangen!“
Das allerdings war ein Irrtum, der Friseur, zu dem ich gegangen war, das
wusste ich genau, war nicht der Friseur Guger gewesen, sondern der Friseur Karger,
der Karger am Burgplatz. Aber es wäre sinnlos gewesen, meiner Mutter zu widersprechen,
ich kannte ihre Dickköpfigkeit – auch war es nicht ungewöhnlich,
dass ihr in ihrem Alter die eine oder andere Erinnerung durcheinandergeriet – und
zog also meinen Mantel an und machte mich auf den Weg. Den Friseur Guger,
dachte ich, würde ich schon finden, so groß war S. nicht und so viele Friseure
würde es in der Nähe des Bahnhofs nicht geben.
Mein Großvater saß zufrieden im Kinderwagen, immer noch ständig den Kopf
hin- und herbewegend, um die Umgebung in Augenschein zu nehmen, manchmal
stumm auf das eine oder andere Gebäude weisend, das sich vielleicht seit seiner
letzten Ausfahrt verändert hatte, aufgestockt worden war oder frisch gestrichen.
Bald näherten wir uns dem Bahnhof, und ich hielt Ausschau nach einem Friseur-
laden, konnte aber, auch als das Bahnhofsgebäude schon direkt vor uns lag, ein Friseurgeschäft
Guger nirgendwo entdecken. Hatte ich es übersehen? Ich fragte meinen
Großvater, aber er reagierte nicht, war wohl schon vor langer Zeit ertaubt. Mir
blieb nichts, als weiterzusuchen. Ich bog ab Richtung Güterbahnhof, an dessen Anfang
sich früher, wie ich mich erinnerte, eine Trafik befunden hatte, ein wenig
nach hinten versetzt, so dass man sie erst sehen konnte, wenn man direkt vor ihr
stand. Vielleicht, so hoffte ich, war das Geschäft aufgegeben worden und der Friseur
Guger war in diese Trafik eingezogen. Aber ehe ich mich noch von der Richtigkeit
oder Unrichtigkeit dieser Annahme überzeugen konnte, begann mein
Großvater unruhig zu werden und versuchte, aus dem Buggy zu klettern. Ich bat
ihn, sitzen zu bleiben, aber er riss an den Gurten, versuchte mit immer wilderen
Bewegungen, sich aus seiner Fesselung zu befreien. „Bleib sitzen! Ruhig! Wir sind
gleich da!“, rief ich, aber er gehorchte nicht. „Bin stinkig!“, rief er weinerlich,
drängend, mit dünner Stimme, immer wieder, „bin stinkig, bin stinkig!“ Ich
machte also kehrt und beschleunigte meine Schritte – auch hatte ich, wie ich gerade
noch feststellen konnte, den Weg umsonst gemacht, die Trafik war immer
noch Trafik –, eilte, den Buggy auf die Hinterräder kippend, damit es meinem
Großvater nicht doch noch gelang auszusteigen, auf die Bahnhofsrestauration zu
und verfluchte meine Mutter, weil sie mir nicht gesagt hatte, dass ich meinem
Großvater auch die Windeln würde wechseln müssen, und verfluchte mich selbst,
weil ich nicht daran gedacht hatte, von vornherein, statt lang zu suchen, in die
Bahnhofsrestauration zu gehen, wo man mir sicher Auskunft hätte geben können,
wo das Friseurgeschäft Guger zu finden war.
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