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Matthias Fallenstein

Bingo oder Die Lust an befreiender Erkenntnis

„Niemand weiß, was ein Gedicht ist“, schreibt der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt. Die Überfülle möglicher Antworten macht eine umfassende und zugleich präzise Bestimmung unmöglich. Da ist es gut, wenn die Dichterin selbst weiß, was sie sich von einem Gedicht wünscht: es soll leicht sein wie ein vogel / oder ein schmetterling / fliegen wie ein von der flachen hand / geblasenes blumenblatt, denn: für die Dauer des gedichts / will ich dieses blatt sein / bezaubert und verzaubert / wie vom blick der verliebtheit. Ins Herz soll ein Gedicht treffen, sagt Elfriede Gerstl in ihrem jüngsten Buch, und so, dass einem leicht ums Herz wird. Man ahnt schon, dass diese Leichtigkeit nicht einfach zu haben ist, „über das Leichte zu sprechen“, sagt Elfriede Jelinek, nämlich „über das, was Elfriede Gerstl schreibt“, das sei „das Schwerste“. Wie verhält es sich mit jenen Einwänden, die man „nach Auschwitz“ gegen das Gedicht zu erheben pflegte, und nun gar eines, das leicht sein will wie ein Vogel und nicht den Schrei der gequälten Kreatur expressionistisch zum Ausdruck bringen? Muss Gerstl nicht wissen, und auch im Gedicht berücksichtigen, was Schreckliches geschehen ist? Sollte das Gedicht, wenn es nun doch noch möglich sein soll, nicht primär darauf zielen, die Geschichte im Gedächtnis zu bewahren, damit sie sich nicht wiederhole? der lauf der welt ist schlecht genug, heißt es bei Gerstl an anderer Stelle im selben Band, und durch dichten nicht änderbar. Das ist eine Grenze, die das Gedicht moralisch entlastet. Dichtung kann den Lauf der Welt nicht beeinflussen und muss es auch nicht wollen, denn er ist nicht zu ändern. Jedoch es gilt auch umgekehrt: alles was nicht zu ändern ist / heißt lauf der welt. Mit einer für die Dichterin sehr typischen Wendung untersucht Gerstls Gedicht sogleich, was es sagt. Und damit wird die bezeichnete Grenze überraschend durchlässig, denn es war ja gewiss nicht behauptet, dass überhaupt nichts zu ändern nötig wäre. Der Lauf der Welt zwar geht seinen Gang, aber wir gehen mit und können dies auf höchst verschiedene Weise tun. Und darüber, wie wir uns den Realitäten stellen, muss man nachdenken, wenn möglich gemeinsam. Deshalb sind Dichtung und Literatur für Elfriede Gerstl nichts, wofern es nicht gelingt, mit dem Leser ins Gespräch zu kommen: denn wenn der leser nicht will / dann gibts gar nix. Und ihren eigenen Gesetzen folgend, bewirkt Literatur zunächst und unmittelbar nur Freude an ihr selbst, bestenfalls macht literatur / lust auf literatur / mehr literatur / andere literatur / oder mehr vom selben. Weil Dichtung und Literatur nur Sprache und Kommunikation sind, erzeugen sie auch weiter nichts als Sprache und Kommunikation: allerdings, und darauf kommt es Gerstl an, nicht im solipsistischen Leerlauf nur um sich selbst kreisend, sondern im stetigen Verweis auf die unübersehbaren Möglichkeiten, aus denen, wer spricht und wer antwortet, eine Auswahl treffen muss, die über den weiteren Fortgang der Kommunikation entscheidet. „Das Gedicht“, heißt es bei Paul Celan, „kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo an Land gespült werden, an Herzland vielleicht.“ Ob Dichtung und Literatur tatsächlich etwas bewirken: das ist demnach nicht eine Frage an die Autorin, es ist eine Frage an uns, wie wir ihre Gedichte lesen.

Es ist eine Grundeigenschaft aller Arbeiten von Elfriede Gerstl, dass sie die geneigten Leserinnen und möglichst auch Leser ins Gespräch ziehen wollen. Mit einer glücklichen Prägung hat Herbert J. Wimmer deshalb die Themen, die in Gerstls Dichtungen angesprochen werden, „Gesprächsbezirke“ genannt. Es wäre also gänzlich verfehlt, wenn wir die Arbeiten Gerstls danach befragten, was uns die Dichterin damit hat sagen wollen. Es wäre ebenso abwegig, in ihnen bloß kunstfertige Gebilde zu sehen, die auf einen kommunizierbaren Sinn nicht angewiesen oder nicht angelegt sind. Wir können immer nur darauf eingehen, worüber Gerstl mit denen noch sprechen möchte, die überhaupt bereit sind, zu hören und ins Gespräch zu kommen: ab und zu, so die kleine Hoffnung, hört ja eh wer zu. Gerstls erste und einzige Prosa größeren Umfangs erschien 1977 unter dem charakteristischen Titel Spielräume. Über die Gattung dieses Textes gibt es verschie- dene Meinungen. Auf keinen Fall handelt es sich um einen Roman im traditionellen, realistischen Sinn. Gerstl kombiniert und integriert verschiedene Textgattungen in einem differenzierten Gebilde. Ich habe das Buch trotzdem mit Spannung und Vergnügen wie einen Roman gelesen, und ich denke, man kann kaum fehlgehen, wenn man es mit Andreas Okopenko, dem langjährigen Freund und Kollegen, einen „Roman“ nennt. Gerstl selbst spricht gelegentlich von einem Montage-Roman und ordnet ihren Text damit den experimentellen Arbeiten nicht-realistisch schreibender Autoren zu. Anders als im traditionellen, realistischen Roman, wie wir ihn heute noch zum Beispiel im Werk von Günter Grass, aber auch bei jüngeren Autoren wieder vorfinden, handelt es sich in diesem Text nicht darum, eine fiktive Handlung so zu erzählen, dass man sie für wahrscheinlich halten könnte. Es werden vielmehr mannigfache Handlungsmöglichkeiten parallel nebeneinandergestellt, ohne eine bestimmte Linie zu verfolgen und dadurch eine scheinbar realistische Einheit erzielen zu wollen. Aber all das heißt ja noch nicht, dass es nichts zu erzählen gäbe. Es wird nur nicht so getan, als ob die Erzählung eine getreue Abbildung der Realität wäre, und Gerstl will deshalb nicht so tun, weil sie weiß, dass eine erzählende Abbildung der Wirklichkeit in Wahrheit nicht möglich ist. Schriftsteller, die vorgeben, zu erzählen, wie es wirklich gewesen ist, täuschen sich und ihre Leser. Man kann immer nur erzählen, wie es möglicherweise gewesen ist, der Leser ist aufgefordert, verschiedene Varianten mitzudenken. Ein Beispiel, es geht auch hier um die Kunst und das, was sie bewirken kann oder soll: aber du weißt doch, sagt Rettenbacher, oder irgendwas in ihm, daß man irgendwas Effektives tun müßte, und daß man mit Kunst doch keinerlei Veränd- // weiß schon, Scheißen ist Gold / sagte oder dachte auch „nur“ Grit, öffnete aber inzwischen höflich ihren Mund für die auszuschlüpfende passable Antwort / das weiß ich doch alles selbst / das hab ich auch gar nicht erwartet / ja, ja, so liegen die Dinge, es ist ein Dilemma / das ist vielleicht einmal ein neuer Gedanke / weißt, ich möcht halt beides, behalten und verändern, weißt / wie klug du bist, du hast wieder mal mit dem Hammer auf den Finger getroffen / bitte sei nicht bös, ich geh ja schon in den Arbeitskreis, oder wenn du meinst, häng ich mich halt auf. Und während Gerstl auf der einen Seite eine Fülle von Varianten aufzählt, die der Handlung je einen verschiedenen Fortgang geben könnten, verweigert sie auf der anderen Seite die detaillierte Ausführung von Szenen, deren Ablauf als selbstverständlich vorauszusetzen ist: was macht der fröhliche Stadtschreiber und / die Frau des fröhlichen Stadtschreibers, wird zweimal gefragt, und die Autorin erteilt die Auskunft: na, du, denk auch mal nach, was werden sie wohl tun? Man muss nicht erzählen, was ein hinreichend erfahrener Leser schon weiß.

Der Roman spielt in der Zeit seiner Entstehung, 1968/69, Schauplatz sind Berlin und Wien, die Protagonistin, Grit, ist etwa im gleichen Alter mit der Autorin und in manchen Eigenschaften ihr ähnlich. Verwechseln, sagt Gerstl, sollten wir die beiden aber nicht. Denn Grit ist keineswegs eine nach dem Vorbild der Autorin autobiographisch gestaltete Figur. Figuren aufstellen / und verwerfen / was soll das, heißt es ausdrücklich im Text. Und die Autorin kann, wenn sie das will, Grit den Namen und die Identität, soweit sie eine solche hat, entziehen. Andrerseits kann Gerstl ein Gedicht und ein Textfragment miteinander in ein Streitgespräch bringen, als wären sie Personen. Die Figuren sind, sagte Gerstl einmal dazu, sprachliche Konstruktionen, sie sind nicht wirklicher und nicht unwirklicher als wir. Und weiter: Die Figuren, die Sachen sind, reden zu Figuren, die Sachen sind, zur Sache oder über die Sachen, „mit verteilten Gedanken“, und Gerstl fügt noch hinzu: muss ich nächstens Stühle reden lassen, damit man versteht, worauf es nicht ankommt? Worauf aber kommt es an? Was stellt Grit dar? Sie ist, so scheint mir, ein Kreuzungspunkt möglicher Diskurse aus der Zeit der Entstehung des Textes, der eben damit ein sehr scharf beobachtetes, facettenreiches, witziges und, wie ich sagen möchte, realistisches Bild dieser Zeit zu geben vermag. Schon die Schauplätze, an denen die Figuren zusammenkommen, markieren genau den Ort, wo solche Gespräche damals stattfanden: eine Party, Kneipen, Wohngemeinschaften. Dort wurden ja nicht die politischen Parolen skandiert, wie auf den Massenversammlungen, sondern ebenjene Themen diskutiert, die den jungen Menschen wirklich am Herzen lagen: das sexuelle Elend und die Chancen der Emanzipation, die Unmöglichkeit, sich, angesichts der militärischen Bedrohung der gesamten Erde durch Atomwaffen, der Politik in einen privaten Raum zu entziehen, die Frage nach den gesellschaftlichen und politischen Wirkungsmöglichkeiten der Kunst, die kleinbürgerliche Muffigkeit der zu Wohlstand gelangten Nachkriegsgesellschaft, das Weiterleben faschistischer Denkmuster, die Unbändigkeit der Hoffnungen auf eine bessere Welt. Es gehört für mich zu den Stärken dieses Romans, dass Gerstl, indem sie diese „Gesprächsbezirke“ gegeneinanderstellt und miteinander in Beziehung bringt, früh und selbständig die Bedeutung feministischer Ansätze erkennt und in das Gesamtgeflecht der Diskurse einwebt. Gerade weil sie das angesichts der Utopien der damaligen Jugendbewegung immer noch Offene und Unabgegoltene im Blick behält, blieb und bleibt ihr Text über die Alterungsprozesse der seinerzeit Jungen hinaus von unzerstörbarer Aktualität. Das hat Andreas Okopenko im Nachwort zur Erstausgabe des Romans, fast zehn Jahre nach Abschluss des Manuskripts, richtig bemerkt, und Heimrad Bäcker hätte sich darüber 1993 gelegentlich des Erscheinens der Neuauflage nicht zu wundern brauchen: Dieses Buch kann erst veralten, wenn die Utopien, die die Menschen in Unruhe und Bewegung versetzten, einmal eingelöst sind. Denn so lange wird es nötig sein, sich kritisch mit den Themen auseinanderzusetzen, die damals die Diskussionen beherrschten. Gerstl hat das einmal, im Hinblick auf die Frauenbewegung, die ja durchaus politisch relevante Erfolge zu verzeichnen hat, drastisch so ausgedrückt....(Auszug)

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