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Sofie Lichtenstein

Zwei Erzählungen

Und ich hoffe, dass keiner drauf latscht

Als ich erkannte, dass es ein Käfer und kein Fussel war, der auf dem Boden entlang krabbelte, stellte ich fest, wie unerwartet das kam: nicht allerdings so unerwartet wie die zufällige Begegnung mit einem alten Freund, den man vor langer Zeit aus den Augen verloren hat, sondern wie das Antreffen eines Käfers, den man in diesem Zug noch nie gesehen hatte. Die Überraschung war lediglich einseitig, konkreter bei mir verortet, das Vieh lief an meinen Füßen vorbei, gleichsam geschäftig, da offenbar nur mit sich beschäftigt, nahm von niemandem Notiz, und ich spürte, dass angesichts der Begegnung zwar die Verblüffung, aber nicht die Freude ganz meinerseits war; traf ich doch schließlich, wie mir jetzt vollkommen bewusst wurde, tatsächlich keinen alten Freund, sondern einen Käfer an.

Ich begann damit, das Ungeziefer unverwandt anzuschauen, musste dabei nicht befürchten, von ihm ertappt zu werden, und wog ab, wie sehr mich sein Anblick ekelte, und zuckte zusammen, als er mir den grauen Rücken zuwendete wie einen Arsch zum Lecken, und stellte fest, dass ich ihn auch auf den zweiten Blick so räudig fand wie auf den ersten. Er krabbelte an der Tasche eines Mannes hoch, wurde von demselben nicht bemerkt und auch von sonst niemandem, und schon sah ich ihn nicht mehr und bedauerte es nicht und war im Begriff, mit den Gedanken schon wieder abzuziehen, als ich bemerkte, dass in diesem Zug, diesem immer gleichen Zug, im Augenblick nichts Bemerkenswerteres zu beobachten war als der nur mit sich selbst beschäftigte Käfer, der meine volle Aufmerksamkeit, ohne es zu vernehmen, anzog statt genoss.

In Kremmen wurde angehalten, in Kremmen stieg der Mann aus, mit der Tasche, und ich nahm an, zwischen dezenter Erleichterung und ebenso dezentem Bedauern hin und her schwankend, jetzt ist er weg, der räudige Käfer an der Aktentasche, und wollte die Aktentasche, die vom Mann gewissermaßen aus dem Zug eskortiert wurde, mustern und sah, noch ehe meine forschenden Blicke die Tasche erreicht hatten, den Käfer, der nicht in Kremmen aussteigen mochte, neuerlich am Boden entlangkrabbeln. Von links kamen noch zwei weitere Leute, die sich anschickten, rechts in Fahrtrichtung auszusteigen, und sie liefen gen Ausgang, ohne dabei den armseligen Käfer plattzumachen, den ich schon, der Gegenwart zuvorkommend, zermanscht sah inmitten der Schuhe und den ich bemitleidete, aber aller Anteilnahme zum Trotz nicht zu retten versuchte. Das war keine Absicht, konstatierte ich, es war keine Absicht, dass niemand auf das Ungeziefer getreten war, ein Versehen, dass es wohlbehalten geblieben war, dachte ich, während ich es betrachtete, das kein Fussel war, sondern weitaus weniger als das, und froh war, dass es noch lebte, dass ich kein Mitleid mit ihm haben musste.

Sobald der Zug weiterfuhr, Richtung Beetz-Sommerfeld, wurde ich unvermittelt Zeuge, wie er, der Käfer, nicht der Zug, sich, offenbar durch eine ungeschickte Bewegung, unfreiwillig in Rückenlage brachte, und dachte, schon beinahe amüsiert, was bist du denn für ein Depp, und lachte in Gedanken und beobachtete und starrte und fühlte nach einer halben Minute, wie meine Mundwinkel in andächtiger Langsamkeit nach unten sanken, als zöge sie jemand mit einer Leine hinab. Und ich starrte auf fieberhaft wirbelnde Beine, Beine, die sinnlos in die Luft traten statt auf den Boden, Beine, die suchend nach festem Grund strampelten, Beine, die nichts bewirkten; starrte auf einen Käferleib, der wie eine umgekippte Schildkröte dalag oder wie ein Säugling, der nicht mehr kann als auf dem Rücken liegen, doch unbedingt mehr will, aber am Bedingten scheitert und verzweifelt; starrte auf einen auf dem Wickeltisch befindlichen Säugling, der kaum ertragen kann, sich als unzulänglich, angewiesen und minderwertig zu empfinden inmitten der Großen, und dennoch keine Wahl hat, als diese Schmach, dieses Unrecht, die eigene Unfähigkeit durchzumachen, starrte immer noch auf einen Säugling, der vollkommen und jedem ausgeliefert war und nicht einmal genug Verstand und nötige Sprache besaß, zu beten und darum zu bitten, nur mit Wohlwollen bedacht zu werden: und starrte unvermittelt auf mich selbst, ohne dass ich in einen Badoder Garderobenspiegel gesehen hätte, wie ich in Rückenlage im Begriff war, zu wollen und nochmal zu wollen und mehr als alle anderen zu wollen und nicht zu erreichen, was ich wollte, und Anstalten machte, mir zu wünschen, dass mir jemand aufhalf, irgendjemand, der mich sah und nicht nur so ansah wie ich gegenwärtig diesen Käfer, der mir unermesslich leid- und wehtat und den ich am liebsten auf die sechs Beine geholfen hätte, wenn nicht die Angst gewesen wäre, von ihm berührt zu werden, dem Räudigen in der Not, die ich verstand, weil sie auch meine eigene war oder wenigstens hätte sein können. Es war kaum mit anzusehen, warum gelang es ihm nicht, sich wieder auf die Beine zu richten, schaffte er es tatsächlich nicht allein, fragte ich mich und schaute unverwandt auf ihn, ohne dass er imstande gewesen wäre, meinen prallen hoffnungsträchtigen Erwartungen zu entsprechen; und ich sah mit an, wie sein fieberhaftes Strampeln nachließ, wie er mit den Lufttritten pausierte, sich minutenlang nicht mehr bewegte, und hielt ihn bereits für tot, als er sich wider Erwarten rührte, und empfand ein voreiliges Glück, das nur jene nachempfinden dürften, die den Erlöser, den sie für immer gestorben wähnten, wiederauferstehen sahen. Doch der Käfer stand wider meine schneller gewesenen Wunschvorstellungen nicht wieder auf, sondern stapfte mit den Beinen bloß resigniert in die Luft wie jemand, der vom vielen ergebnislosen Wollen bereits müde geworden war und innerlich schon längst kapituliert hatte.

Der Zug hielt bereits am Rheinsberger Tor und ich dachte, jetzt wirst du zermanscht, könntest du nur, der du hoffnungslos auf dem Rücken liegst, beten und um Wohlwollen bitten. Alles drängte zur Tür, wahrscheinlich ohne einmal zu blinzeln, starrte ich den Käfer an, ließ sein Schicksal nicht mehr aus meinen Augen und fühlte bei jedem, der an ihm vorbeilief, tiefe Erleichterung, so lange, bis der vorletzte aussteigebedürftige Fahrgast ausgestiegen war. Wie ein Aufpasser hatte ich, bevor ich als Letzter hinausging, darauf geachtet, dass niemand auf ihn trat, als hätten meine Blicke allein es verhindern können. Bis auf mich war niemand mehr im Zug. Der Käfer lag immer noch auf dem Rücken, pausierte neuerlich mit dem vergeblichen Gestrampel seiner Beine. Aber ich ließ ihn mit einem Leid, das sich wie mein eigenes anfühlte, im Zug zurück, überließ ihn seiner aussichtslosen Lage, sich selbst, und fühlte mich, als ich den Bahnsteig entlanglief, wie ein Säugling....(Auszug)

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