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Robert Prosser

Anisa

Das warme Zwielicht Sarajevos, früher, viel früher. Das Studium nebensächlich, stattdessen der Tag erfüllt von Erwartung, der Lust auf Reisen, Abenteuer, im Rattern der Garnitur, in Gesprächsfetzen und ruckelnd anvisierten Haltestellen, geöffneten Schiebetüren und Rufen, Gelächter. Im letzten Waggon der Straßenbahn, Milorads Hand auf ihrem Oberschenkel, blickten beide kurz vor ihrer Station durch die Hinterscheibe auf die zurückgelegten Gleise. Vom Wind verwirbelte, weiße Blüten in der Luft, die Fahrspur ein dunkelgrüner Tunnel aus Blättern, Bäumen, flackernd vor Möglichkeit; der Himmel in den Fenstern umliegender Häuser wie Scherben aus Wolke und Blau. Frühling und Stadt lösten sich auf in ungezählte, sich ähnelnde Momente, deren ruhige, regelrecht langweilige Abfolge jetzt, im Nachhinein, eine Art von Glück ist.

Die Faszination lag im Eingeständnis, dass der Glaube, den anderen zu kennen, eine Täuschung ist. Als ob es je genügt hätte, Milorad während des Sex zu beobachten, sein abgewandtes Gesicht, den offenen Mund. Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Zoo und während des Schlenderns von Gehege zu Gehege, von Affen zu Elefanten, vom Aquarium mit Fischen in wunderschönen Farben zur Voliere, wurde er fassbarer und rätselhafter zugleich, als manifestiere sich unter seiner transparent gewordenen Haut ein Geheimnis. Einen Fingerzeig boten Kinobesuche, wenn sein Gesicht im Schein der Projektionen aufglomm und, verträumt oder konzentriert aus dem Dunkel des Saales geritzt, einem beschriebenen Blatt Papier glich. Durch dieses Gesicht schimmerte eine Nachricht, die, ahnte Anisa, eine dringliche Bedeutung für sie hatte, sich aber trotz aller Mühen nicht entziffern ließ. Sie genoss, zu beobachten, in wie viele Facetten er sich während der Filmvorführungen spaltete; sein unterdrücktes Kichern oder erstauntes Kopfschütteln machten ihr bewusst, dass es Verborgenes an ihm gab, das sie gleichsam begreifen wollte. Im Zoo wurde ihr klar, nur hier zu sein, um die Fremdheit im Wesen Milorads bestaunen zu können, während er sich im Wundern über exotische Tiere verlor. Als würden sie vor einem leeren Schachbrett sitzen, so war ihr die Beziehung zu ihm, um mit jeder Beobachtung eine Figur zu erhalten, jeder Kinofilm ein Bauer beispielsweise, und Besonderheiten wie ein Ausflug in den Zoo ein Turm oder Springer. Ein weiterer Spielzug eröffnete sich am Käfig des Schneeleoparden. Das Tier lungerte auf einem gefällten, das Gehege durchschneidenden Baumstamm, sah auf, da Milorad näher trat und die Hand durch das Gitter steckte. Anisa stand neugierig abseits, wie mit dem Schneeleoparden übereingekommen, ihrem Freund eine Falle zu stellen. Das Tier glitt vom Stamm, den langen Schweif durch die Luft geschwungen spannte die Raubkatze ihren Leib und sprang gegen die Absperrung, welche unterm Aufprall erzitterte; gelbliche Fangzähne und Speichelfäden im geöffneten Maul, die linke Tatze erhoben, um Milorads Gesicht zu zerkratzen, der in einer Mischung aus Schrei und Lachen zurückwich, erregt, den Schneeleoparden provoziert zu haben.

Anisa steht vor „Apelles malt Kampaspe“ von Jodocus de Winghe. Aus beflügelter Muse, einen Lorbeerkranz tragend, und einem Regenten samt geschäftiger Dienerschaft, sticht ein Maler hervor, der sein Modell hingerissen beäugt. Ein kindgroßer, pausbäckiger Amor weist mit einem Pfeil dem Maler auf die Brust, wie dieser mit einem Stab auf den Bauch der nackten Aphrodite. Kampaspe, Mätresse Alexander des Großen, posiert im Halbprofil als Göttin, die einen gequälten Gesichtsausdruck preisgibt. Dieses zweite Ich, das sich von der Leinwand dem Betrachter zuwendet, zeigt, was Kampaspe wirklich fühlt, unerkannt vom begehrenden Blick Apelles' oder der Distanz Alexanders. Besonders wird ein Gemälde, lässt es weiterdenken. Es fängt einen Moment, ist dieser Moment voll und ganz, und vermittelt ein Gespür dafür, was als nächstes passieren wird in den dargestellten Schlachten und Gelagen, mit den Dämonen und Engeln, Hofdamen und Kavalieren, Mördern und Schlittschuhfahrern. Die Farben, Darstellungen schaukeln mich zwischen Heute und Damals, Wien und Sarajevo. Nach dem Zoobesuch eine Tasse Kaffee in der Hand, Vogellaute, das offene Fenster, wie schön sich die Vorhänge blähten im Wind. Milorad betrachtete eine seiner Zeichnungen, die er als nichtigen Ausgleich zum Studium abtat, wiewohl Anisa aus seinem Blick und der Art, wie er die Blätter hastig in der Mappe versteckte, etwas anderes erriet. Der Himmel wanderte in Schatten durchs Zimmer, sie überlegte, Opus 110 von Shostakowitsch abzuspielen und entschied sich dann doch für Kameleoni und einem ihrer Beatles-Coversongs: in einen solchen Moment kehrt sie zurück, zu Kaffeedampf, Zwitschern, Schwere losigkeit. Wenig Details, viel Empfindung. Im Schweben der Bilder ist jenes von Früher erhalten, worin man sich liebt und dem Rauch einer Zigarette zusieht, wie er zum Fenster gleitet.

Ich verließ Sarajevo, ein Kurzbesuch in meinem Dorf, dachte ich, und sagte Milo nicht, dass ich mir Sorgen um Vater machte. Am Telefon hatte er aufgebracht erzählt, Imre, der Nachbar, habe in anderen Orten des Grenzgebietes an serbischen Häusern schwarze Kreuze gesehen. Imres Frau, berichtete Vater, pinselte abends ein solches an die eigene Tür; am nächsten Morgen stand auf den Eingangsstufen eine Schachtel, darin Pis- tolen und Munition. Ein schwarzes Kreuz bedingte einen Karton mit Waffen; nachdem die Ausgangssperre erlassen und Anisa festsaß, rollte als Echo auf die durch Wald und Dorf patrouillierenden Soldaten ein Bus die Straße entlang. Einer der Uniformierten, deren Kommandant erklärt hatte, dass keine Sorge, sondern seine Truppe als Schutz nötig sei, lehnte neben ihr am Zaun. Dieser Bus, sagte er, nimmt vor der Brücke über die Drina anstatt der rechten Abzweigung nach Loznica die linke in ein unbewohntes Tal. Über den Soldaten, nicht viel älter als sie selbst, legte sich in Anisas Augen das Gesicht Milorads. Sie konnte sich vorstellen, dass der Fremde sich ebenso freut, hört er die ersten Takte eines Liedes von Kameleoni, wie sie Milorad in gleicher Weise verstummen sah, würde er versuchen zu beschreiben, was im Seitental geschehen wird. Anisa erkannte zusammengekauerte Menschen, die Hände hinter dem Kopf, und zwischen ihnen Männer, die ihre Gesichter über die Abtransportierten hinweg an die Scheiben drückten und nach ihr riefen. Im Mai 1992 wurden Anisa und ihr Vater mitsamt den anderen Muslimen vor die Moschee beordert. Eine Stunde, sagte der Kommandant und wies auf die offene Tür eines Busses, bliebe Zeit....(Auszug)

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